Partner im RedaktionsNetzwerk Deutschland
SZ + Dresden

Eingestürzte Carolabrücke in Dresden: "Das ist ein Morgen, den wollen Sie nicht erleben“

Schock, Ungläubigkeit, Wut: Das sagen Anwohner, Einsatzkräfte, Weiße Flotte, der Brückenverantwortliche und Schaulustige nach dem Einsturz der Carolabrücke in Dresden.

Von Dominique Bielmeier & Alexander Schneider & Elisa Schulz
 9 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Verheerendes Bild am Mittwochmorgen: Ein großes Stück der Carolabrücke in Dresden ist eingestürzt. Das Unglück bewegt die ganze Stadt.
Verheerendes Bild am Mittwochmorgen: Ein großes Stück der Carolabrücke in Dresden ist eingestürzt. Das Unglück bewegt die ganze Stadt. © SZ/Veit Hengst

Dresden. Es ist gegen 3 Uhr morgens, als Adriane Kipper wach wird, weil ihr gesamtes Haus in der Dresdner Altstadt vibriert. Sie wohnt in einem Fünfgeschosser auf der Pestalozzistraße, nahe dem St.-Benno-Gymnasium. Bis zur Carolabrücke ist es rund ein Kilometer.

Dass von dieser gerade ein riesiges Stück in die Elbe gestürzt ist, genauer vom sogenannten „Zug C“, auf dem die Straßenbahnen fahren, kann sie sich da beim besten Willen nicht vorstellen. Sie lauscht noch eine Weile, hört nichts mehr – und legt sich wieder schlafen. Erst Stunden später erfährt sie, was passiert ist.

Nun, um kurz vor elf, steht die Dresdnerin mit Dutzenden anderer Menschen auf der Brühlschen Terrasse und schaut sich das ganze Ausmaß des Schadens an. Wo sonst Touristen die hübsche Augustusbrücke fotografieren oder die Regierungsgebäude auf der anderen Elbseite, sind heute alle Handykameras auf das verheerende Bild der kaputten Carolabrücke gerichtet.

Einen Kilometer entfernt wurde Adriane Kipper von den Erschütterungen des Brückeneinsturzes in Dresden wach.
Einen Kilometer entfernt wurde Adriane Kipper von den Erschütterungen des Brückeneinsturzes in Dresden wach. © SZ/Dominique Bielmeier

Neun Minuten zwischen letzter Bahn und Einsturz

Eine Fahrbahn auf der Länge zwischen zwei Brückenpfeilern hängt schlaff in die Elbe, das angrenzende Stück Richtung Neustadt biegt sich gefährlich durch. Wie durch ein Wunder ist niemand verletzt, keine Straßenbahn mit in die Tiefe gerissen worden. Die letzte Bahn fuhr laut Dresdner Verkehrsbetrieben um 2.50 Uhr. Um 2.59 Uhr stürzte der Brückenzug ein. Ein Überwachungsvideo zeigt, wie noch kurz vorher einzelne Fahrradfahrer die Brücke überquerten. Dann klaffte dort plötzlich ein riesiges dunkles Loch.

Adriane Kipper kann nicht glauben, dass so etwas in Deutschland passieren kann, in Dresden. „Das ist doch alles neu gemacht worden“, sagt sie, während in der Luft ein Hubschrauber kreist und unter ihr das THW auf dem abgesperrten Terrassenufer ans Werk geht. „Das muss doch abgenommen und kontrolliert werden.“

Es ist eine der Fragen, die sich nun unzählige Menschen stellen: Wie konnte so etwas passieren? Dicht gefolgt vom Schrecken der Erkenntnis: Was noch alles hätte passieren können! Kipper denkt zum Beispiel an die vor wenigen Wochen zu Ende gegangene Kaisermania, an die Tausenden Menschen, die immer auf dem Fußweg genau dieses Brückenzuges stehen und den Konzerten von Roland Kaiser zuhören.

"Als wenn wir unsere Schiffe nicht warten würden"

Auch bei der Sächsischen Dampfschiffahrt sitzt der Schrecken tief, der Dampfer „Meissen“ stand nur fünf Meter von der abgestürzten Brücke entfernt. Nicht auszumalen, was geschehen wäre, hätte der Brückenzug ein fahrendes Schiff getroffen. Doch auch so ist das Unglück ein schwerer Schlag für die Weiße Flotte.

Bei der Pressekonferenz am Morgen an Anleger 7 spricht Geschäftsführer Stefan Bloch von einem „finanziellen Desaster“. Der September sei der umsatzstärkste Monat und das Terrassenufer der wichtigste Ort. Diese neue Situation könnte das gesamte, sehr gute Jahr der Flotte vermiesen. Es sei nun unklar, wie es weitergehe. Bloch überlegt etwa, Fahrgäste, die elbaufwärts wollen, von den Verkaufsterminals am Terrassenufer per Shuttlebus zu den Anlegern oberhalb der kaputten Brücke zu bringen.

Schock in Dresden: Wie konnte es zu einem solchen Einsturz kommen?
Schock in Dresden: Wie konnte es zu einem solchen Einsturz kommen? © kairospress

Nach der Pressekonferenz findet der Flottenchef deutliche, scharfe Worte für die Stadtverwaltung, nennt ein Statement von Holger Kalbe, dem Abteilungsleiter Brücken- und Ingenieurbauwerke bei der Stadt, „erschreckend“. Bloch: „Sie wussten davon, dass Chlorid eingedrungen ist. Das wäre dasselbe, als wenn wir unsere Schiffe nicht warten würden.“

Kalbe ist dafür zuständig, dass die Brücken in Dresden befahrbar sind, hatte er kurz zuvor erklärt. „Glauben Sie mir, das ist ein Morgen, den wollen Sie nicht erleben.“ Der Einsturz sei ein Risiko, „mit dem wir uns seit vielen Jahren auseinandersetzen, deshalb sind die Brückenzüge A und B bereits saniert“. Auf diesen fahren Autos in beide Richtungen über die Carolabrücke. Dass der Zustand in Zug C so schlimm ist, dass es zum Einbruch kommt – „das war nicht voraussehbar“.

Mögliche Ursache: Korrosion

Für Überraschung sorgte diese Aussage Kalbes: „Heute Morgen, als ich die Schadstelle gesehen habe, war mir auch eine mögliche Ursache klar.“ Auf Nachfrage erläutert er: In die Spannbetonbrücke, in eben diesen nun eingestürzten Zug C habe es zu DDR-Zeiten aufgrund fehlender Wartung einen massiven Chlorid-Eintrag gegeben. Inzwischen habe man zwar einen Chlorid-Entzug gemacht.

Aber: „An dieser Stelle, wo jetzt der Bruch eingetreten ist, über dem Pfeiler, da steht auch gerade ein Mast von den Verkehrsbetrieben, sodass es denkbar ist, dass an dieser Stelle massiv die Chloride eingedrungen sind und dort im Inneren der Brücke zu einer Korrosion der Bewährung geführt haben“, so Kalbe. Schnell schiebt er nach, das seien nur erste Vermutungen vom Morgen, in seinem „kaffeelosen Zustand“. Zum Ende der Woche könne man genauere Aussagen treffen.

Nach der Pressekonferenz wird Kalbe nach einem Zwiegespräch mit Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung schnell weggebracht, um nicht weiter von Journalisten mit Nachfragen „belagert“ zu werden – mit Verweis auf seinen aufgebrachten Zustand.

Später erklärt Steffen Marx, Professor für Ingenieurbau der TU Dresden, dass die frühen Spannbetonbrücken in Ost wie West nicht abgedichtet worden seien, etwa gegen Tausalze, also die genannten Chloride. Man habe das als nicht notwendig erachtet. Marx wurde von der Stadt beauftragt, die Schadensursache des Einsturzes herauszufinden.

Keine Indizien für einen Anschlag

Als einer der Ersten ist Feuerwehrsprecher Michael Klahre um kurz nach 3 Uhr auf der Carolabrücke. Er läuft von der Synagoge aus auf den Brückenkopf, um zu erkunden, was passiert ist. Plötzlich bersten wenige Meter entfernt unter der Brücke zwei Fernwärmeleitungen. Das Wasser zischt mit einem Druck von 16 Bar aus den beiden 500-Millimeter-Rohren. Klahre spricht von „Millionen von Litern heißem Wasser“, die vom Brückenkopf „das Terrassenufer überschwemmen und von einer großen Rauchwolke – Wasserdampf“. Dann läuft er weiter und sieht den eingestürzten Brückenzug, auf dem die Straßenbahnlinien 3 und 7 über die Elbe führten, einschließlich eines Rad- und Fußweges.

© RND

Wegen des massiven Druckabfalls im Fernwärmeversorgungsnetz der Stadt müssen die Kraftwerke an der Nossener Brücke und in Reick heruntergefahren werden. In der gesamten Stadt muss das Warmwasser abgeschiebert werden. Es dauert Stunden, ehe die Kraftwerke wieder hochfahren und die Stadtteile nach und nach wieder ans Netz gehen. Der eine oder andere wird am Morgen kalt geduscht haben müssen.

Die Polizei wiederum ist zeitnah auch der Frage nachgegangen, ob die Brücke Ziel eines Anschlags war – immerhin geschah das Unglück am 11. September. Polizeisprecher Thomas Geithner: „Da läuten die Alarmglocken.“ Doch gebe es derzeit keine Anhaltspunkte für ein strafbares Verhalten, keine Indizien, die auf einen Anschlag hindeuteten. Dafür aber reichlich Fake News in sozialen Netzwerken: gefälschte Fotos und Videos der eingestürzten Brücke mit arabischen Schriftzeichen. Dem gingen Beamte des Staatsschutzes nun nach.

"Sie haben gespürt, wie der Boden unter ihnen wackelte"

Beamte des Objektschutzes, die vor der Synagoge eingesetzt waren, hätten den Einsturz der Brücke praktisch „live miterlebt“, erzählt Geithner. „Sie haben gespürt, wie der Boden unter ihnen wackelte“ – und seien schnell vor Ort gewesen. Unweit davon steht am späten Morgen eine rüstige Reisegruppe vor dem Hotel am Terrassenufer, mit Koffern und in Regenkleidung. Unfreiwillig wartend. In Polen waren sie, dann zwei Tage in Dresden und nun wollten sie eigentlich weiter nach Frankreich. Aber sie wissen nicht, ob ihr Bus kommt und wenn ja – wann?

Das Unglück trifft auch die Autofahrer, die ihre Wagen über Nacht auf dem benachbarten Parkplatz unter der Carolabrücke abgestellt haben und nun nicht in den gesperrten Bereich dürfen. Für sie hat das Rathaus auf seiner Homepage eine Service-Nummer veröffentlicht. Dort meldet sich Marcel Immisch vom Polizeirevier Mitte in der Schießgasse. „Die Resonanz ist relativ hoch“, sagt er kurz nach 13 Uhr. Die Betroffenen hätten ein hohes Verständnis für die Lage. Einige Gäste des benachbarten Hotels etwa hätten ihre Autos weggefahren.

Gefahr für Einsatzkräfte ist sehr hoch

Dennoch muss er einigen Menschen mitteilen, dass sie vorerst ihr Fahrzeug nicht in Sicherheit bringen können. „Gegenwärtig gibt es zwei Autos, die dürften noch weg“, sagt Immisch. Die anderen Fahrzeuge, ein gutes Dutzend, könnten jedoch vorerst nicht geholt werden. Leben und Gesundheit seien wichtiger als die Sachwerte. Im Moment könne man nicht einschätzen, wie sich die Lage, also das Risiko eines Einsturzes, entwickelt. Grundlage sei die Gefahreneinschätzung der Feuerwehr.

Die ist auch am Nachmittag noch sehr hoch. Feuerwehrsprecher Klahre sagt bei einer weiteren Pressekonferenz, man müsse sehr langsam vorgehen, da auch für die Einsatzkräfte eine Fürsorgepflicht bestehe. Diese befänden sich auf oder auch nur nahe der Brücke, die jederzeit weiter einstürzen könne, in Lebensgefahr. Durch Messpunkte, die vom THW gesetzt worden seien, werde nun beobachtet, ob die Brücke weiter absackt. Dann löse ein Alarm aus.

Gymnasium hat Erschütterung aufgezeichnet

Bei den vielen Menschen, die sich am Mittwoch dagegen in sicherer Entfernung zur Brücke befinden, die einfach eine Weile stehen und schauen, dürfte wie bei Anwohnerin Adriane Kipper die Ungläubigkeit überwiegen. Der 41-jährige Markus zum Beispiel ist null Uhr noch über die Brücke gefahren, erzählt er. Mit der ersten Meldung auf seinem Handy ist er ans Elbufer gekommen, um es selbst zu sehen.

Schaulustige hatten sich auf der Brühlschen Terrasse eingefunden.
Schaulustige hatten sich auf der Brühlschen Terrasse eingefunden. © SZ/Veit Hengst

Auch die Schülerinnen Kathie und Grete fahren jeden Tag über die Brücke, um in die Schule zu kommen. „Da ist es echtes Glück, dass es nachts passiert ist.“ Die 46-jährige Nicole Hauswald, die mit ihrem Mann Jens Berger ans Königsufer gekommen ist, nachdem sie im Radio vom Einsturz gehört haben, hat schon eine Idee für den Wiederaufbau: „Von der eingestürzten Brücke könnte man ein paar Steine verkaufen – hier stehen ja genug Touristen, die das bestimmt auch kaufen würden.“

Das Vibrieren ihres Hauses, das Adriane Kipper so früh am Morgen geweckt hat, ist übrigens wissenschaftlich festgehalten worden: Weil das benachbarte St.-Benno-Gymnasium gerade an einem Seismologie-Projekt der TU Bergakademie Freiberg teilnimmt, hat es die Erschütterung, die durch den Brückeneinsturz entstanden ist, aufgezeichnet. Nun kann die Schule ausrechnen, welche Magnitude es hat, wenn mehrere Hundert Tonnen Beton in die Elbe stürzen.