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Dresdner Verkehrsexperte: "Ich erwarte eine Beweisumkehr bei der Anordnung von Tempo 50"

Dresden diskutiert, ob Parkplätze zugunsten von Radwegen weichen müssen. Ein falscher Ansatz, sagt Verkehrsplaner Gerd-Axel Ahrens. Stattdessen müsse langsamer gefahren werden.

Von Dirk Hein
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"In der Verkehrspolitik Dresdens wird stark polarisiert", sagt Verkehrsplaner Professor Gerd-Axel Ahrens.
"In der Verkehrspolitik Dresdens wird stark polarisiert", sagt Verkehrsplaner Professor Gerd-Axel Ahrens. © Sven Ellger

Dresden. Verkehrsplaner Gerd-Axel Ahrens war bis zu seinem Ruhestand Professor an der TU-Dresden, saß im wissenschaftlichen Beirat des Bundesverkehrsministeriums. Derzeit ist er als Berater bei Bau- und Verkehrsprojekten tätig. Seine Überzeugung: Bereits heute gilt auf etwa 80 Prozent der Dresdner Straßen Tempo 30. 80 Prozent der Verkehrsleistung werden aber auf den restlichen Vorfahrtstraßen, überwiegend mit Tempo 50 abgewickelt. Diese müssen allerdings sicher gestaltet sein, sonst wäre auch präventiv Tempo 30 anzuordnen.

Herr Professor Ahrens, Sie haben sich in einem offenen Brief an OB Dirk Hilbert gewandt. Hintergrund ist die aktuelle Diskussion über Radwege an der Gostritzer Straße. Dort gibt es heftige Kritik, weil Parkplätze und Bäume wegfallen müssten, um sichere Radwege zu bauen. Was war Ihre konkrete Motivation?

In der Verkehrspolitik Dresdens wird stark polarisiert. Entscheidungsträger im Stadtrat scheinen oft dogmatisch zu urteilen, ohne alle Belange zu berücksichtigen und abzuwägen, wie es Gesetze und technischen Regeln verlangen. Es geht nicht um die Frage ob Auto oder Fahrrad, sondern um beides und auch um den ÖPNV, die Fußgänger sowie Schutzansprüche von Kindern, Behinderten und älteren Menschen.

An der Gostritzer Straße sollten die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Lösungsansätze abgewogen werden. Auf einen Radweg kann dort womöglich wegen der geringen Verkehrsstärke verzichtet werden. Dann müsste aber auch Tempo 30 angeordnet werden.

Bei diesen Beurteilungen ist ausschlaggebend, ob wir uns in einer vorfahrtberechtigten Hauptstraße oder einer Nebenstraße mit Rechts-vor-Links bewegen. Das Straßennetz sollte entsprechend einheitlich für alle Verkehrsteilnehmer leicht begreifbar gestaltet werden.

Was ist für Sie eine Hauptstraße?

Das sind die für die städtischen Verbindungsverkehre vorgesehenen Vorfahrtstraßen. Sie dienen als äußere Erschließung für die Wohn-, Misch- und Gewerbegebiete. Sie werden durch Querschnittsgestaltung, Markierungen, Beschilderungen, Lichtsignalanlagen, Querungshilfen und Radverkehrsanlagen möglichst sicher gestaltet. Auf ihnen wird in der Regel 50 gefahren, es sei denn, es gibt Gefahrenstellen. Dazu gehören auch die Abschnitte ohne Radverkehrsanlagen.

Was sind dann Nebenstraßen?

Das sind die von Hauptstraßen umgebenen Erschließungsstraßen mit Rechts-vor-Links als Tempo-30-Zonen. Man fährt in ihnen nur kurze Wege von der Hauptstraße zum Ziel oder von dem Ausgangspunkt der Fahrt auf die nächste Vorfahrtstraße.

In diesen Zonen wird langsam gefahren, um Wohngebiete zu schützen und die Verkehrssicherheit zu erhöhen. In anderen Städten werden dafür vor allem die Einfahrten so gestaltet, dass die Kfz nicht mehr gefährlich schnell einbiegen können. Hier passieren sonst die meisten Unfälle. Mit sogenannten Aufpflasterungen werden besonders hier die Geschwindigkeiten gedämpft und die querenden Fußgänger und Radfahrer geschützt. Gegen zu großzügige Kurvenradien spricht auch, dass hier häufig Autos parken und die Sichtbeziehungen gefährlich blockieren.

Die klare Struktur unseres Straßennetzes mit der Unterteilung in Vorfahrtstraßen und in viele verkehrsberuhigte Nebenstraßen hat sich bewährt. Die Unfälle sind stark zurückgegangen. Dieses Konzept verfolgt auch Baubürgermeister Stephan Kühn mit seinem Team von Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplanern.

Wann empfehlen Sie Tempo 50, wann Tempo 30?

Dadurch, dass der Verkehr auf wenigen Straßen gebündelt wird, entstehen dazwischen Inseln der relativen Ruhe mit wenig Verkehr und großer Verkehrssicherheit. Hier geschehen kaum Unfälle mit Personenschaden.

Die Maßnahmen zur Verkehrssicherheit konzentrieren sich auf die Hauptstraßen. Hier wird alles getan, um den Verkehr bei Tempo 50 möglichst sicher zu gestalten. Wenn wie auf der Gostritzer Straße Radverkehrsanlagen fehlen, sollte immer überlegt werden, hier nicht besser Tempo 30 anzuordnen. Ich erwarte mit den nächsten Änderungen der Straßenverkehrsordnung eine Umkehr der Beweislast, nach der proaktiv zu belegen sein wird, dass Tempo 50 noch hinreichend sicher ist.

Dresden will an mehreren Stellen Autospuren reduzieren, um dem ÖPNV mehr Platz zu geben. Aktuell wurde dies am Schillerplatz umgesetzt, ist das der richtige Weg?

Ich halte das für sinnvoll. Ich habe in meiner Praxis immer darauf geachtet, dass der eine den anderen nicht ausbremst. Das ist am Schillerplatz nicht der Fall. Die Engstellen sind immer die Kreuzungen.

Der Stau bildet sich vor der Ampel am Schillerplatz. Wenn die Leistungsfähigkeit dort, also die Anzahl von Spuren und die Grünzeit für Kfz nicht reduziert werden, verlieren die Autos durch die Maßnahme keine Reisezeit. Zwar wird der Stau länger, die Anzahl der Fahrzeuge, die die Kreuzung in der Grünzeit passieren, bleibt aber gleich.

Wo wäre dabei der objektive Nachteil für den Kfz-Verkehr? Stattdessen werden durch den Verzicht auf die kurze zweistreifige Überholmöglichkeit über die Gleise von der Haltestelle Jungstraße bis zur Kreuzung Kretschmerstraße Verbesserungen für den ÖPNV und die Verkehrssicherheit erzielt.

Dresden diskutiert regelmäßig, wenn Parkplätze zugunsten von Radwegen wegfallen. Wie sollte die Stadt da handeln? Sollten Radfahrer gefördert werden?

Integrativ denkenden Verkehrsplanern geht es nicht um Radverkehr oder Autoverkehr. Es geht primär um mehr Verkehrssicherheit und natürlich auch um verbesserte Angebote für mehr Rad- und Fußverkehr sowie den ÖPNV, auch damit die Straßen entlastet und der notwendige Kfz-Verkehr reibungsloser fließen kann.

Der vom Bundestag und der Verkehrsministerkonferenz beschlossene Grundsatz "Sicherheit zuerst" (Vision Zero) bedeutet für den Straßenverkehr, ähnliche Sicherheitsanforderungen wie beim Schienen- oder Luftverkehr zu erfüllen. Wer würde noch Bahn fahren, würden dort ähnlich viel Verletzte und Getötete wie auf den Straßen zu beklagen sein? Von daher ist die Abwägung eindeutig: Unfallrisiken, gefährdete Kinder versus Stellplätze – geht da die Sicherheit nicht vor? Für Ingenieure ist das selbstverständlich.