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Noch lange nicht außer Dienst - ein Leben für die Annenkirche in Dresden

Frisch vom Studium kommend wurde Günter Seidel Kantor der Dresdner Annenkirche. Sieben Pfarrer und fünf Nachfolger später ist er noch lange nicht außer Dienst.

Von Nadja Laske
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Kantor und Organist Günter Seidel bringt die Orgel der Annenkirche und ihr gesamtes kulturelle Leben zum Klingen.
Kantor und Organist Günter Seidel bringt die Orgel der Annenkirche und ihr gesamtes kulturelle Leben zum Klingen. © Sven Ellger

Dresden. Beziehungen muss der Mensch haben. Zu Gott und den Menschen im Allgemeinen. Aber auch im Besonderen. Zum Beispiel, wenn man in der DDR ein Kirchendach decken will. Oder eine Orgel restaurieren. Da hilft es vielleicht, einige Stoßgebete gen Himmel zu schicken. Doch auf der Erde braucht es Anpacker aus Fleisch und Blut, die Ideen haben und helfen.

Günter Seidel ist ein solcher, und er kennt wiederum Leute, die mit ihm Großes vollbracht haben. Wegbegleiter mit beweglichem Geist, unerschrockenem Wesen und jede Menge Liebe im Herzen. Wenn der 84-Jährige ins Erinnern kommt, dann erhellt ein Leuchten seine konzentrierten Züge. Einem Kantor, könnte man meinen, beschert so etwas nur die Musik und das Musizieren. Aber es sind auch überaus profane Dinge, die eine solche Begeisterung in ihm auslösen.

Seit 60 Jahren steht Günter Seidel im Dienst der Annenkirche. Vor knapp 20 Jahren schied er offiziell aus seinem Amt als Kantor aus, blieb seiner Gemeinde und dem Kirchenleben jedoch bis heute treu. Was von ihm zuallererst zu erzählen wäre, ist die Vielzahl an Aufgaben, die er dafür erfüllt: Einst leitete er die Christenlehre, gab Religionsunterricht, gründete den Kinderchor, trat in den Kirchenvorstand ein, musizierte selbst und organisierte unzählige Konzerte, rief Veranstaltungsreihen ins Leben und zog damit große Musiker und viel Publikum an.

Vom Handwerker zum Musiker

Doch vor dieser bewegten Zeit im Schwung einer hochgelobten Akustik, mit Orgelmusik und begeisterten Zuhörern im übervollen Kirchenschiff, war Günter Seidel der Sohn eines Schlossers gewesen. Dessen Beruf nahm auch er für sich an und wurde zunächst Handwerker. Vater und Mutter, mit vielköpfiger Familie und schwerem Alltag gut ausgefüllt, hatten ihn dennoch an die Musik herangeführt. So lernte er Konzertzither und Trompete, und traf auf offene Ohren, als er nach seiner Schlosserlehre die Ausbildung zum Kinder- und Jugenddiakon begann, viereinhalb Jahre in Moritzburg.

Während dieser Zeit lernte er Klavier zu spielen und ging musikbegeistert schließlich zum Kirchenmusikstudium über. So trat die Orgel in sein Leben und er ins Leben der Annenkirche - als Kantor mit ganz frischem Diplom, der voller Enthusiasmus daran ging, die Gemeinde erst einmal mit den nötigsten Musikinstrumenten auszustatten und einen musischen Austausch anzuregen.

Das ist nun sechs Jahrzehnte her, in denen sich das Allermeiste für ihn um Glaube und Musik drehte, doch eben auch um die irdenen Herausforderungen, die zu spüren sind, wenn beispielsweise der Regen durchs kaputte Dach rinnt. "Unsere Orgel musste generalüberholt werden", erzählt der Kantor a.D., der doch noch immer zu Diensten ist. Zuvor aber musste eine Zwischendecke eingezogen werden, weil die Dachziegel schon lange lückenhaft waren und keine Sanierung in Sicht.

Orgel-Erneuerung in Dresden: Viele Hände packten mit an

Über besagte Beziehungen, die greifen, wenn der Glaube allein nicht alle Berge versetzt, organisierte Günter Seidel vier Kubikmeter Holz, Bretter aus einer Brettmühle, die auf abenteuerliche Weise an Ort und Stelle kamen. "Einen handwerklichen Beruf gelernt zu haben, war auf jeden Fall sinnvoll", sagt er. "Wenn ich für die Kirche irgendwelches Material brauchte, bin ich einfach an die Leute herangetreten, von denen ich dachte, sie könnten helfen." Und er bekam Hilfe, in aller Regel verständnisvoll und unkompliziert.

Immense Unterstützung kam natürlich auch aus der Gemeinde selbst, begeistert und zur Not hemdsärmelig. Schließlich ging es um die Sache. "Als die Orgel erneuert wurde, lagen 300 Orgelpfeifen über den Kirchenbänken", erzählt Seidel. Viele Hände packten bei der Demontage mit an. Günter Seidel selbst sorgte dafür, dass sie lackiert wurden und die Farbe dafür her zukam. Das Geld für das Großprojekt spendete die westliche Partnergemeinde.

Die Königin aller Instrumente wieder erklingen zu lassen, das tat nicht nur den Menschen an wichtigen Kirchentagen gut, sondern öffnete auch neue Möglichkeiten für Konzerte, die kulturelles Leben in die Kirche und Geld in die Gemeindekasse brachten. Die Sächsische Staatskapelle musizierte, und der Trompeter Ludwig Güttler wurde in der Reihe "Orgel und Trompete" vom Publikum gefeiert - anfangs von rund 60 Besuchern. Zur letzten Veranstaltung der Reihe standen 300 Konzertbegeisterte vor der Tür, die keinen Platz mehr in der Kirche fanden.

Inzwischen ist es etwas ruhiger in der Annenkirche geworden. Als Günter Seidel noch die Christenlehre abhielt, drängten sich 50 Jugendliche und 90 Kinder im Gotteshaus. Daran ist nicht mehr zu denken. Der demografische Wandel wirkt sich auch in der Wohngegend aus. Das heißt aber nicht, dass der Senior-Kantor zu wenig zu tun hätte. Allein für dieses Jahr organisiert er rund 40 Konzerte und musiziert zum Teil selbst in einem Blockflöten-Quartett. Rentner haben eben niemals Zeit. Das ist kein göttliches Geheimnis.