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Modellbauer bastelt Neustädter Markt als Diorama: "Ich bin dafür mit Canaletto auf Zeitreise gegangen"

Rainer Dierchen ist von Beruf Modellbauer. Als Rentner baut er seine Lieblingsorte nach - nun den Neustädter Markt. Was ihn antreibt und warum ein Ende in Sicht ist.

Von Dirk Hein
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Rainer Dierchen mit dem nachgebauten Neustädter Rathaus in Dresden.
Rainer Dierchen mit dem nachgebauten Neustädter Rathaus in Dresden. © Matthias Rietschel

Ungefähr da, wo jetzt das Eiscafé Venezia steht, befand sich das erste Neustädter Rathaus. Erstmals 1455 urkundlich erwähnt, wurde das Haus mehrfach umgebaut und erweitert. Sich schon im Verfall befindlich, wurde es um 1750 von Canaletto als Teil einer Marktszene gemalt und damit unsterblich gemacht, bevor ab 1754 wenige Meter entfernt das zweite Neustädter Rathaus seine Tore öffnen konnte.

Viel Modelliermasse, reichlich gebrochene Arme und Beine

"Ich bin ein absoluter Verehrer von Canaletto. Er hat in Fotoqualität gemalt. Canalettos Camera obscura gleicht eigentlich unseren jetzigen Digitalkameras", sagt Rainer Dierchen. Der 76-jährige gelernte Modellbauer sitzt am Wohnzimmertisch seiner Wohnung und blickt auf eine Kiste mit kleinen Figuren, theoretisch bestimmt für den H0-Modellbaubedarf. Im Hunderterpack hat er die aus China bestellt - nur um ihnen dann die Arme zu brechen oder die Köpfe abzuschneiden.

Der Grund: Dierchen baut den Neustädter Markt als Diorama nach, also als verkleinerte Nachbildung der Szene. Die gebrochenen Arme und Beine? "Das war notwendig, um die Gesten wie auf dem Gemälde nachbilden zu können", sagt er.

Die Mäntel auf dem historischen Bild hat er mit Modelliermasse nachgebildet. Die barocke Kutsche ist, bis auf die Pferde und die Räder, ein kompletter Eigenbau. Auch die Spitzhüte seiner Figuren hat Dierchen selber gestaltet: Eine vier Millimeter dünne Polystyrolscheibe hat er dafür mit einem Cuttermesser kreisrund ausgeschnitten, ein Dreieck ausgeschnitten und die Ränder hochgeklappt.

Dem Zufall hat Dierchen dabei nichts überlassen. "Ich habe auch mit anderen Canaletto-Bilder verglichen: Wie sahen die Wachleute damals aus, wie hat Canaletto seine Brunnen gemalt, welche Kleidung tragen die Menschen auf seinen Gemälden."

So malte Canaletto den "Neustädter Markt in Dresden" samt Goldenem Reiter. In der Mitte liegt die heutige Hauptstraße.
So malte Canaletto den "Neustädter Markt in Dresden" samt Goldenem Reiter. In der Mitte liegt die heutige Hauptstraße. © Foto: Wikipedia

Angefangen hat Dierchen mit seinem Diorama im April dieses Jahres. Wenige Wochen vorher war sein letztes großes Projekt fertig geworden: 750 Stunden hatte er investiert, um das zerstörte Schloss Prohlis nachzubauen. Damals sagte er: "Sehr wahrscheinlich ist das mein letztes Projekt." Gesundheitlich mittlerweile merklich angeschlagen, war zumindest die Hand für den Modellbau weiter ruhig wie vor vielen Jahren.

"Ich bin mit Canaletto auf Zeitreise gegangen"

An ein wirkliches Aufhören war daher eigentlich nicht zu denken, zumal es weitere Rückschläge gab. "Es war damals eine für mich gesundheitlich wirklich kritische Zeit. Um mich abzulenken, vertiefte ich mich in eine Zeitreise mit Canaletto ins alte Dresden." Dierchen blätterte durch alte Bücher und blieb am Canalettos Bild "Der Neustädter Markt in Dresden" hängen.

Der Wunsch, "das baue ich mir nach", war plötzlich da. Durch ein Leben als Modellbauer, so sagt Dierchen, hätten sich zudem derart viele Baumaterialien angehäuft, dass mindestens drei kleinere Modelle noch entstehen können. "Das Material wäre für den Müll zu schade."

Beim Herstellen der Figuren sei er dann im Bild und in der Zeit um 1750 versunken. "Mir sind dabei Geschichten zu den Figuren eingefallen, die so auch stattgefundenen haben können." So ist auf dem Gemälde auch eine Baustelle zu sehen, in Dierchens Diorama wirbt ein Vorabeiter dafür Wandergesellen an. Blickt man grob auf das Gemälde, sieht man lediglich eine Frau an einem Verkaufsstand. Dierchen hat sich das Bild digital so weit es geht vergrößert und sagt: "Die Frau verkauft Kruzifixe" - und sie verkauft die nun auch im Modell.

Pferde und Räder sind zugekauft, den Rest der Kutsche hat der Modellbauer exakt nachgebildet, dafür unter anderem kleinen Modellfiguren Beine abgeschnitten und diese neu angeklebt.
Pferde und Räder sind zugekauft, den Rest der Kutsche hat der Modellbauer exakt nachgebildet, dafür unter anderem kleinen Modellfiguren Beine abgeschnitten und diese neu angeklebt. © Matthias Rietschel
Im Vordergrund das Diorama, im Hintergrund das Neustädter Rathaus als Ausschnitt des Canaletto-Gemäldes.
Im Vordergrund das Diorama, im Hintergrund das Neustädter Rathaus als Ausschnitt des Canaletto-Gemäldes. © Matthias Rietschel
Ein Vorarbeiter wirbt zwei Wandergesellen an - zu sehen auf dem Gemälde und als Miniatur.
Ein Vorarbeiter wirbt zwei Wandergesellen an - zu sehen auf dem Gemälde und als Miniatur. © Matthias Rietschel
"Ich bin ein absoluter Verehrer von Canaletto": Modellbauer Rainer Dierchen.
"Ich bin ein absoluter Verehrer von Canaletto": Modellbauer Rainer Dierchen. © Matthias Rietschel

Vom Kupferstich zum fertigen Modell

Vom alten Neustädter Rathaus hatte Dierchen am Anfang dennoch nur das Bild. Als gelernter Modellbauer brauchte er aber exakte Maße, um zuerst den Grundriss und dann die Fassaden aufbauen zu können. Der 76-Jährige hat sich dafür an den Menschen auf dem Canaletto-Gemälde orientiert. Ausgehend von deren Durchschnittsgröße von 1,70 Metern und der bekannten Größe der Fenster aus der Zeit hat Dierchen per Verhältnisrechnung die Größen des Rathauses abgeleitet.

Weil auf dem Gemälde die Giebelseiten und die Rückseite nicht zu erkennen sind, hat der Modellbauer weiter gesucht und auf alten Kupferstichen aus der Zeit zumindest Teile davon entdeckt. "Davon ausgehend habe ich diese Seiten dann ein bisschen frei Schnauze gestaltet", schmunzelt Dierchen - nur, um dann doch auf ein Bild zu deuten, auf dem sich erkennen lässt, dass die Form der Giebel doch sehr exakt nachgebildet ist.

Drei Monate lang, jede Woche ungefähr zehn Stunden, hat Rainer Dierchen an seinem Modell gearbeitet. Der Senior würde sich freuen, wenn das Diorama im Zusammenhang mit dem Neustädter Markt als Leihgabe ausgestellt werden könnte. Klappt das nicht, sei es zumindest "eine schöne Bastelzeit frei von Sorgen" gewesen.