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Kraftwerk vor der Semperoper in Dresden: Verpixelte Zukunftsvisionen

Die Elektro-Musik-Pioniere von Kraftwerk beweisen in Dresden vor der Semperoper eindrucksvoll, wie visionär sie bereits in den 1970ern waren.

Von Tom Vörös
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Die deutsche Elektro-Band Kraftwerk traten am Samstagabend in Dresden vor der Semperoper auf. Es ist das einzige Konzert der Band in diesem Jahr in Deutschland.
Die deutsche Elektro-Band Kraftwerk traten am Samstagabend in Dresden vor der Semperoper auf. Es ist das einzige Konzert der Band in diesem Jahr in Deutschland. © kairospress

Dresden. Willkommen auf einer Reise in die Vergangenheit der Zukunft. So fühlt es sich an, wenn vier ziemlich unbewegliche Herren hoch oben an der Dresdner Semperoper ihre Visionen in Töne und Bilder fassen. Auf einem Gerüst stehen sie aufgereiht hinter ihren Licht-Pulten und strahlen LED-haft auf den prall gefüllten Theaterplatz herunter. Viele der rund 18.500 Kraftwerk-Fans haben ihre Tickets auf der Daten-Autobahn erworben und sind mit ihren fahrbaren Computern angereist, um den Pionieren der elektronischen Musik zu huldigen. Ein Pionier-Halstuch wäre bei den herbstlichen Temperaturen nicht das schlechteste gewesen. Derweil verwandeln die Düsseldorfer Klangtüftler die historische Fassade des Renaissance-Opernhauses in eine Projektionsfläche voller Zukunftsvisionen. Die Retro-Pixel-Optik erinnert dabei an eine Zeit, in der erste Computer auf den Markt kamen.

„Wir sind die Roboter“: Das Projekt Kraftwerk entstand 1970 im Umfeld der experimentellen Kunstszene in Düsseldorf.
„Wir sind die Roboter“: Das Projekt Kraftwerk entstand 1970 im Umfeld der experimentellen Kunstszene in Düsseldorf. © kairospress

Und höre und siehe da – Lieder wie „Computerwelt“ und „Heimcomputer“ lassen die Herzen der Ü-40-Fraktion höherschlagen. Man ist halb berauscht von der Kraftwerk-Präzision, die das deutsche Klischee überbietet mit einem überpünktlichen Start. Da lässt man sich gerne fallen, in die Kraftwerk-betriebene Sicherheitszone. Auch, weil vor 40 Jahren die Kritik am Technik-Fortschritt gefühlt noch so groß war wie ein Computerpixel. Heute erstrahlen moderne, überdimensionale Projektionen, von denen vielleicht selbst Ur-Kraftwerkler Ralf Hütter damals noch nicht zu träumen wagte. Das letztverbliebene Band-Mitglied tanzt, natürlich, nicht aus der Reihe. Und das lässt die Vorahnung zu, dass dieses Gesamtkunstwerk selbst ohne die Helden von damals und sogar ohne echte Menschen auskommen könnte.

Das passt sogar ins Konzept. Denn Kraftwerk bespielte ja schon immer eine Welt zwischen Mensch und Maschine. In früheren „Interviews“ ließen sie gar selbst gebaute Roboterfiguren zu Wort kommen. An der Semperoper laden die doch hin und wieder menschlich zuckenden Protagonisten ins „Electric Café“ und bereiten alle halb-gemütlich vor – auf Kraftwerks Hit-Maschinerie mit den so simpel wie charmanten Ohrwurm-Melodien.

Gefangen zwischen Kopf und Gefühl

Mit „Autobahn“ verlässt die zunehmend verzauberte Menge endgültig ihre Raststätte und lässt sich zum verhaltenen Tänzchen animieren, während ein alter VW-Käfer und ein Mercedes über das mächtige Rund der Semperoper düst. Und ein wenig spürt man bei der zahlreichen Kraftwerk-Belegschaft klitzekleine Funken von Heimatliebe aufblitzen, die deutsche Schnellstraßen-Kernkompetenz macht’s möglich. Die Euphorie wird jedenfalls jetzt mit jedem Stück weiter beschleunigt. Denn auf die Nicht-Reproduktions-Hymne „Computerliebe“ folgt mit „Das Model“ ein weiterer größter Hit aus dem Düsseldorfer Klangkosmos. Hier wird die Semperoper zur kurzzeitigen Beruhigung mit schwarz-weißen Nostalgiefilmchen bestrahlt. Aber offenbar nur, um die guten alten Zeiten mit „Geigerzähler“ und „Radioaktivität“ musikalisch zu beenden. Die Semperoper-Stummfilm-Atmosphäre wird nun zur Droh-Kulisse einer leider nicht ganz unrealen Gegenwart. Kraftwerks 70er-Visionen sind hier erschreckend konstant.

Die Düsseldorfer Klangtüftler verwandelten die historische Fassade des Renaissance-Opernhauses in eine Projektionsfläche voller Zukunftsvisionen.
Die Düsseldorfer Klangtüftler verwandelten die historische Fassade des Renaissance-Opernhauses in eine Projektionsfläche voller Zukunftsvisionen. © kairospress

Irgendwann inmitten einer beeindruckenden, abwechslungsreichen Klang- und Bilderwelt beginnt man zu ahnen, warum die Halbwertszeit von Kraftwerk als sehr hoch eingeschätzt wird. Warum die Band als einflussreichste deutsche Gruppe gilt, warum sie den Grammy erhielt, als Zierde namhafter Kunsthäuser eingeladen wird und vor drei Jahren gar in die „Rock and Roll Hall of Fame“ aufgenommen wurde – obwohl man hier quasi das Gegenteil eines hüftschwingenden Elvis vor sich stehen hat. Kraftwerk zelebriert den mechanisierten, emotionsfreien Umgang mit höchst emotionalen Themen. Und man selbst ist in dieser faszinierenden wie beängstigenden Zwischenwelt gefangen – und will es trotzdem einfach immer weiter sein. Man bekommt den unmissverständlichen Eindruck: Hier wird über unser aller Schicksal entschieden. In diesem Kraftwerk wird eine Zukunft verhandelt, auf die kein echter Einfluss möglich ist. Und man starrt gebannt auf den nächsten Akt, den unsere Spezies auf ein neues Level heben soll.

Wenn die Mensch-Maschinen-Augen imaginär zwinkern

Glücklicherweise lassen die Düsseldorfer auch mal die Mensch-Maschinen-Augen imaginär zwinkern, führen ihr Publikum gerne mal in den Alltag, lassen bunte Vitaminkapseln über die Opernhaus-Fassade regnen und laden zur Tour de France. Denn einige der Kraftwerkler lieben nicht nur Endzeit-Szenarien, sondern schnuppern gerne mal, solange es eben noch geht, auf dem Fahrrad pure Naturluft.

Die Retro-Pixel-Optik erinnert dabei an eine Zeit, in der erste Computer auf den Markt kamen.
Die Retro-Pixel-Optik erinnert dabei an eine Zeit, in der erste Computer auf den Markt kamen. © kairospress

Mit einem Endloskonzert-verheißenden „Musique Non Stop“ verlassen die bunt blinkenden Herren nach und nach das Bühnengerüst. Zehntausende wissen, was noch fehlt in der Produktpalette gut verpackter Emotionen – die Vorstellungsrunde. „Wir sind die Roboter“ tönt es durch die Innenstadt. Und während viele ihr Smartphone schweifen lassen, wird klar: Die Band hat mal wieder Recht behalten.