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Das Festival "Literatur jetzt" beginnt diese Woche in Dresden

Ab Mittwoch im Dresdner Zentralwerk: Das Festival „Literatur Jetzt!“ bietet Rezepte gegen Kummer aller Art, Gedichte treppauf und treppab, Gespräche über Ost und West und ein Lesefest für Kinder.

Von Karin Großmann
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Schauspieler Robert Stadlober liest im Dresdner Zentralwerk Tucholsky. Die Sächsische Zeitung ist Medienpartner des Festivals "Literatur jetzt".
Schauspieler Robert Stadlober liest im Dresdner Zentralwerk Tucholsky. Die Sächsische Zeitung ist Medienpartner des Festivals "Literatur jetzt". © dpa

Beinahe jedes Schloss besitzt eine Ahnengalerie. Die Damen tragen Schnürbrust und falsche Locken, die Herren ähneln einander frappierend. Sie heißen Ludwig eins bis acht und posieren mit Kniebundhosen.

Ottos Vorfahren heißen Otto und sehen auch so aus. Während andere Kinder zur Schule, ins Schwimmbad oder zum Handballtraining gehen, muss sich Otto um sein Schloss kümmern. Er wohnt da allein mit Koch und Haushälterin – bis das Personal in den Urlaub fährt.

Was dann passiert, erzählt der Schweizer Schriftsteller Peter Stamm in seinem jüngsten Kinderbuch. Stammleser – den Kalauer lässt man sich nicht entgehen – lieben die Romane und Erzählungen des Autors, weil er das Wahrscheinliche mit dem Unwahrscheinlichen so elegant vermischt, dass die Grenzen kaum spürbar werden. Seine Figuren sind keine Superhelden. Sie stehen oft etwas neben sich, sie scheitern schon am Alltäglichen, unbeholfen und sehnsüchtig.

Früher hätte man sie als Eigenbrötler bezeichnet. Umso mehr toben sich die Ottos, Marlenes und Theos in den Kinderbüchern aus. Da brilliert der Erzähler mit wilder Fantasie und schrägem Humor.

Hochkaräter der Kinderbuchszene

Peter Stamm ist beim Dresdner Festival „Literatur Jetzt!“ doppelt zu haben. Im Zentralwerk in Dresden-Pieschen überrascht er am Sonnabend, 19.30 Uhr, mit unveröffentlichten Erzählungen. Beim Kinderlesefest „Literatur fetzt!“ am Sonntag stellt er 14 Uhr gemeinsam mit dem Illustrator Ole Könnecke den Band „Otto von Irgendwas“ vor.

Neben ihm gastieren andere Hochkaräter der Kinderbuchszene wie Martin Baltscheit oder Nikolaus Heidelbach. In kurzer Zeit hat sich dieses kleine Fest neben dem großen als vergnüglicher Pflichttermin für Jungleser und ihre Ahnen etabliert.

Wechselnde Orte, aber der Anspruch bleibt

Das Festival selbst begann vor 16 Jahren fast als Geheimtipp und ist langsam und schön gewachsen. Die Orte wechselten und die Mannschaft, der Anspruch bleibt: ein Programm für Junge und Ältere, mit Lesungen und Gesprächen, renommierten Gästen und Subkultur. Ein Programm, das aktuelle Diskurse in der Gesellschaft aufgreift und Beziehungen stiftet, wo sie noch fehlen.

Das Zentralwerk im ehemaligen Grafischen Großbetrieb „Völkerfreundschaft“ erweist sich seit 2019 als perfekter Standort. Nicht nur, weil er viele Räume bietet, sondern „weil er auch riecht, wie ein Moment riechen sollte: Nach Staub, nach Putz, nach frischer Farbe und altem Holz, nach porösem Backstein, nach einem Gebäude, das in Bewegung ist“, sagte die Publizistin Katrin Schumacher in ihrer Lobrede auf „Literatur Jetzt!“. Das Festival wurde im August mit dem Förderpreis zum Kunstpreis der Landeshauptstadt geehrt. Damit wird auch ein Engagement anerkannt, das ehrenamtlich läuft. Selbst wer noch nie knapp dreißig Veranstaltungen für vier Tage organisierte, ahnt den Aufwand.

Eine Autorin wie Mariana Leky zum Beispiel ist schwer zu kriegen, sie reist kaum zu Lesungen. Ihr Bestseller „Was man von hier aus sehen kann“ wurde in der Verfilmung mit Corinna Harfouch auch ein Kinoerfolg.

An diesem Mittwoch, 19 Uhr, eröffnet Mariana Leky das Festival mit ihrem jüngsten Band „Kummer aller Art“. Sie erzählt von verzagten, schlaflosen und innerlich unaufgeräumten Menschen, die man zu kennen meint. Ab 21 Uhr lädt der Dresdner Schriftsteller Marcel Beyer zur After-Show-Party ein, wie fast jedes Jahr.

Humorvolle Gelassenheit dreier Ostfrauen

Zur Tradition wird auch der Lyrik-Parcours am Donnerstag, 18 Uhr. Treppauf und treppab geht es zur Poesie. Dichter lesen und führen durch Räume im Zentralwerk, die sonst nicht öffentlich zugänglich sind. Danach treffen sich mit Slata Roschall und Dana von Suffrin zwei Schriftstellerinnen der mittleren Generation zum Gespräch, die manches gemeinsam haben: das kraftvolle Erzählen, die jüdisch gefärbte Familiengeschichte, die Erfahrung von Fremdsein.

Vor allem das Fremdsein wurde für Kurt Tucholsky zur prägenden, schmerzhaften Existenzform. Der Schauspieler Robert Stadlober unternimmt am Donnerstag, 21 Uhr, eine Zeitreise mit dem glänzenden Feuilletonisten der Weimarer Republik.

Blick in den Ballsaal des Dresdner Zentralwerks in der Riesaer Straße.
Blick in den Ballsaal des Dresdner Zentralwerks in der Riesaer Straße. © René Meinig

Wer sich für eine der fünf Veranstaltungen am Freitag entscheiden muss, hat die Qual der Wahl. Ein Buchtitel könnte helfen: „Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“.

Ab 18 Uhr stellen die Autorinnen Annett Gröschner, Peggy Mädler und Wenke Seemann ihren Band vor. Sie stammen aus Magdeburg, Dresden, Rostock und begegnen den oft erbittert geführten Auseinandersetzungen zwischen Ost und West mit humorvoller Gelassenheit. Ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit diskutieren sie über Kontostände, Kindheitserlebnisse und Klischees, auch über Alkohol im Osten: „Schön trinkt die DDR sich jeder Bürger/ mit ner Flasche Blauer Würger“.

Über die Zeit der Verluste

Das Thema wird am Sonnabend, 21 Uhr, fortgeführt: „Nüchtern“ heißt das Erfolgsbuch von Daniel Schreiber. Er diskutiert mit den Autorinnen Sophia Fritz und Hengameh Yaghoobifarah über toxische Weiblichkeit, queere Utopien und die Zeit der Verluste. Für die in Leipzig lebende Schriftstellerin Martina Hefter sind Verluste ein immer wiederkehrendes Thema in Lyrik und Prosa. Sie sucht und findet die richtigen Worte für das scheinbar Unaussprechliche, Totgeschwiegene, Peinlich-Unangenehme.

In ihrem jüngsten Roman „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“ erzählt sie von einer Mittfünfzigerin, die sich mit einem modernen Heiratsschwindler aus Nigeria eine Scheinweltwelt aufbaut. Damit gelangte die Autorin auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Kürzlich las Martina Hefter im Garten des Dresdner Societaetstheaters, eingeladen vom Festival „Literatur Jetzt!“ – ein Vorgeschmack auf eine wortreiche, gedankenreiche, vergnügungsreiche Woche.