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Dresdner Verkehrsversuche und ein Dauerstreit: Fahrrad oder Auto?

Verkehrsversuche zeigen: Es geht stets nur um Dogmen und einseitige Vorstellungen, kaum um ganzheitliche Betrachtungen. Ein Gastbeitrag.

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Weil es die Stadtverwaltung an Transparenz bei Planungsprozessen und -entscheidungen mangeln lässt, sorgen Verkehrsversuche wie der am Blauen Wunder für Unmut.
Weil es die Stadtverwaltung an Transparenz bei Planungsprozessen und -entscheidungen mangeln lässt, sorgen Verkehrsversuche wie der am Blauen Wunder für Unmut. © Christian Juppe

Von Gerd-Axel Ahrens

Fragt man nach alltäglichen Ärgernissen, so stehen Verkehrsthemen regelmäßig an erster Stelle. Geht es um Lösungen und Maßnahmen, schütteln gelernte Verkehrsplaner oft den Kopf, wenn sie mit Stammtischparolen oder dogmatischen Forderungen aus Politik und Gesellschaft konfrontiert werden.

Die Fronten scheinen klar: Pro Auto, pro Fahrrad, für oder gegen Tempolimit. Weitere Wünsche und Anforderungen sind: Freiheit, Freude am Fahren, schneller von A nach B, auch mit Bus, Bahn oder Fahrrad sowie weniger Lärm und Abgase. Überraschend wenig thematisiert werden die im Vergleich hohen Gefahren und Verluste beim Straßenverkehr oder Anforderungen von behinderten und älteren Menschen.

Das Auto wurde zu einer unverzichtbaren Selbstverständlichkeit. Primär wird aus Sicht der Autofahrer argumentiert und Klage geführt. Entscheider sind überwiegend automobile Männer mit Führerschein. Dabei spricht sich die zu repräsentierende Bevölkerung mehrheitlich für Klimaschutz, mehr Sicherheit, weniger Lärm und Abgase aus. Wo es aber um konkrete Maßnahmen geht, fühlen sich jeder direkt betroffen und lehnt diese oft ab. Nach dem Motto: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“

Unser Autor: Gerd-Axel Ahrens, Jahrgang 1948, studierte Bauingenieurwesen/Verkehrs- und Stadtplanung in Braunschweig und Pittsburgh, USA. Bevor er 2000 als Professor für Verkehrsplanung an die TU Dresden berufen wurde, war er Chef der Verkehrsverwaltung i
Unser Autor: Gerd-Axel Ahrens, Jahrgang 1948, studierte Bauingenieurwesen/Verkehrs- und Stadtplanung in Braunschweig und Pittsburgh, USA. Bevor er 2000 als Professor für Verkehrsplanung an die TU Dresden berufen wurde, war er Chef der Verkehrsverwaltung i © PR

Über allem schwebt das Gebot der „Leichtigkeit und Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs“ – der noch immer gültige vorrangige straßenverkehrsrechtliche Belang. Die Vorteile autogerechter Gestaltung wurden als sachgerecht und unverzichtbar verinnerlicht, die Nachteile – vor allem zu viele Tote und Verletzte – werden im Bewusstsein wahrgenommen, aber schnell verdrängt.

Dabei ist der aktuelle Stand von Wissenschaft und Praxis und auch die politische Beschlusslage inzwischen ein anderer: „Sicherheit zuerst – Vision Zero“ wurde von den Verkehrsministern und dem Bundestag auch für die Straßen beschlossen. Beim Schienen- und Luftverkehr ist das für alle Kunden eine Selbstverständlichkeit.

Die Diskussionen um die „freie Fahrt für freie Bürger“ sind Beispiel und Labor für den auch bei uns zunehmenden Populismus. Immer häufiger werden nur noch sektorale, auf Einzelaspekte bezogene „Meinungsbestätigungen“ in unserer Gesellschaft erwartet. Politiker aller Parteien geben dem nach und versuchen, auch unausgewogene schwarz-weiße Wünsche, die laut vorgetragen und von den Medien – oft nicht relativiert oder im Zusammenhang eingeordnet – aufgegriffen werden, gerecht zu werden.

„Fehlerhafte“ selektive Einschätzungen

In der Wissenschaft heißt das „Confirmation Bias“ oder „Bestätigungsfehler“, wenn Neigungen und Informationen so ermittelt und interpretiert werden, dass sie eigenen Erwartungen entsprechen. Dabei ist der Bias eine systematische fehlerhafte Neigung beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen. „Fehlerhafte“ selektive Einschätzungen sind bei Verkehrsthemen keine Seltenheit.

Die Verkehrspolitik nach dem Kriege verlief in Ost und West unterschiedlich. Im Westen wurde das Auto bis in die 70er-Jahre als Symbol für Fortschritt und Wirtschaftskraft gesehen, gefördert und privilegiert. Das wurde akzeptiert, bis es durch die gestiegene Motorisierung zu eng wurde, Staus und Belastungen überhandnahmen. Im Osten lief der Wiederaufbau ohne Marschall-Plan nach den Vorstellungen des Politbüros als sozialistischer Aufbau. Die Motorisierung der DDR blieb vergleichsweise niedrig, sodass Bahn und ÖPNV im Unterschied zur BRD ihren Stellenwert behielten.

Rückbau von Hauptverkehrsstraßen

Im Westen bewirkten über 21.000 Verkehrstote im Jahr 1970, Energiekrise, autofreie Sonntage, Waldsterben, Luftverschmutzung und Verkehrslärm einen Wandel in der Verkehrsplanung: ÖPNV, Fuß- und Radverkehr sollten stärker beachtet werden, die ersten verkehrsberuhigten Bereiche entstanden. In den Städten sollte mit einer leistungsgerechten Bündelung des Kfz-Verkehrs auf dem Netz der Vorfahrtsstraßen sowie dem Um- und Rückbau von Hauptverkehrsstraßen dieser effektiver und sicherer werden. Die ÖPNV-Gesetze der Länder wiesen ab den 90er-Jahren dem ÖPNV in Ballungsräumen eine Vorrangstellung zu.

Trotz der damals hohen Zahl von Toten und Verletzten im Verkehr gab es erhebliche Widerstände, als 1976/79 die Gurtanlegepflicht eingeführt wurde. Mit Einführung eines Verwarngeldes ab 1984 überzeugte die deutliche Wirkung auch Kritiker. Ähnlich wuchs Anfang der 90er-Jahre bei einem Teil der Autofahrer die Gegnerschaft gegen die nach ihrer Auffassung als Schikanen empfundenen Verkehrsberuhigungsmaßnahmen. Die Kontroversen führten damals zu erdrutschartigen Änderungen der Machtverhältnisse in vielen Rathäusern.

Aber ebenso wie die Gurtanlegepflicht führten die Verkehrsberuhigungs- und Umbaumaßnahmen in den westdeutschen Städten zu weniger Unfällen. Nach ca. 21.000 Verkehrstoten im Jahre 1970 waren es 1989 noch ca. 8.000, 2023 noch 2.800 Tote. Die westdeutschen Städte haben damals mit enormen planerischen und partizipatorischen Aufwand die Anordnung Hunderter von Tempo 30-Zonen durchgeführt.

Widerstand gegen Tempo-30-Zonen

Diese Phasen der Verkehrsberuhigung wurden von ostdeutschen Fachkreisen interessiert zur Kenntnis genommen, aber in der Vorwendezeit noch nicht übernommen.

Mitte der 90er bot die neue Bundesregierung (Rot-Grün) dem Städtetag an, die von ihm in den 80ern vorgeschlagene Tempo-30-Regelung ganz ohne Schilder nur in Straßen mit Rechts-vor-Links-Regelung in die StVO aufzunehmen. Nach dem enormen planerischen und politischen Aufwand zur Einrichtung der vielen Tempo-30-Zonen wollten das aber vor allem die Weststädte nicht mehr. So wurde lediglich die Verwaltungsvorschrift (VwV-StVO) entschlackt, um den Oststädten eine unbürokratische Anordnung auch der reinen Schilderlösungen für Tempo-30-Zonen zu ermöglichen.

Nach 1990: Mehr Verkehr, mehr Tote

Dadurch gibt es in einigen, vor allem ostdeutschen Städten, auch heute noch Schleichverkehre durch Tempo-30-Zonen und fahrdynamisch zu schnell nutzbare unsichere Einfahrten in diese Nebenstraßen, an denen längs querende Fußgänger und Radfahrer dann leicht zu Unfallopfern werden. Die Wende erfüllte im Osten den lang ersehnten Wunsch nach „automobiler“ Freiheit und prägte ein entsprechendes Bewusstsein. Schon 1998 ergab die Erhebung „Mobilität in Städten – SrV“ eine Motorisierung in den Ost-Großstädten mit ähnlich hohen Werten, wie in den West-Städten. Damit stand zunächst die Umplanung und Ertüchtigung des Netzes der Vorfahrtsstraßen im Vordergrund.

An den hohen Preis, den die Menschen in den neuen Bundesländern für die neue Bewegungsfreiheit zahlten, wurde weniger gedacht: Mit der wachsenden Verkehrsdichte wuchs die Zahl der Verkehrstoten von 1989 bis 1990 um 85 Prozent von 1.784 auf rund 3.300. Hohe Geschwindigkeiten, teilweise auf schlecht oder unzureichend ausgebauten Straßen ohne die üblichen Sicherheitsstandards wie etwa fehlende Radverkehrsanlagen und eine fehlende flächenhafte Verkehrsberuhigung konservierten dort die erhöhten Risiken für Fußgänger und Radfahrer.

Vorrang-Politik im „Autoland Sachsen“

Eine Vorrang-Politik im „Autoland Sachsen“, die Sicherheitsmaßnahmen durch Rückbau oder den Bau von Radverkehrsanlagen im Straßenraum nicht förderte, mag heute noch ein Grund dafür sein, warum Dresden im Städtevergleich bei den Unfallzahlen und -opfern einen Spitzenwert einnimmt. Einschlägiges Beispiel ist die Planung und der Umbau der Leipziger Straße, die heute zu den unsichersten Stadtstraßen in Sachsen gehört.

Bei Verkehrsthemen sind selektive Wahrnehmungen und präjudizierte – nicht ganzheitlich abgewogene – Präferenzen häufig Diskussions- und Entscheidungsgrundlage. Einmal festgelegt, wehrt man sich gegen den „Überzeugungsdruck“ einer faktisch orientierten Gegenargumentation. Tradierte, seit langem verinnerlichte Wahrnehmungen und Einstellungen bleiben trotz neuer Anforderungen ungeprüft bestehen und verursachen die eingangs erläuterten „Bestätigungsfehler“.

Fehlende Transparenz sorgt für Unmut

Dabei ist miteinander reden, kooperieren, sind projektbegleitende Ausschüsse, Runde Tische oder Planungszellen schon lange bewährter Standard bei Verkehrsplanungen – auch in Dresden oder Leipzig. Verwaltungsintern planen und dann die Ergebnisse verkünden, verteidigen und hoheitlich umsetzen, das ist heute nicht mehr üblich. Das erzeugt Unmut, Widerstand und Protest und entspricht nicht der gebotenen Transparenz von Planungsprozessen und -entscheidungen.

Der 2014 beschlossene Verkehrsentwicklungsplan Dresden 2025plus wurde im Entstehen von einem Runden Tisch und mit Beteiligung von Delegierten unterschiedlicher „Interessenssektoren“ sowie von politischen Entscheidungsträgern begleitet. Dafür gewann er sogar einen europäischen Preis als vorbildlicher SUMP (Sustainable Urban Mobility Plan). Zurzeit wird er als „Dresdner Mobilitätsplan 2035+“ – partizipatorisch über einen „Mobilitätsdialog“ – noch ausgefeilter fortgeschrieben. Die Sächsische Zeitung berichtete am 31. Januar 2024, dass der ADAC den Großstadtverkehr von 15 Großstädten in Dresden und Leipzig am besten bewertet hat.

In Dresden liegt das maßgeblich am guten ÖPNV der DVB und an vergleichsweise guten Randbedingungen für einen zügigen Autoverkehr. Dabei ist bemerkenswert, dass der Automobilclub in seinem Bewertungssystem die Qualitäten für alle Verkehrsteilnehmer berücksichtigt. Er zeigt damit, dass nur mit Kooperation und integriertem Denken die erforderlichen Verbesserungen erreicht werden können.

Mögliche Handlungsschwerpunkte

Für den neuen Dresdner Stadtrat eröffnet der „Mobilitätsplan 2035+“ gute Chancen. Es sollte zunächst um das Erreichen der einvernehmlich formulierten Ziele und nicht sofort um streitige Details bei einzelnen Maßnahmen gehen. Für netzweite Verbesserung der Verkehrssituation könnte man sich beispielsweise auf folgende – weitgehend einvernehmliche – Handlungsschwerpunkte einigen:

  • Vermeidung hoher Geschwindigkeiten beim Abbiegen auf Grundstücke und in Nebenstraßen zum Schutz längs querender Verkehrsteilnehmer
  • Sichere Vorfahrtstraßen für gebündelte innerörtliche Verbindungsverkehre – dazwischen verkehrsberuhigte Tempo-30-Zonen. Verkehrstechnische Möglichkeiten für höhere Leistungsfähigkeit und mehr Sicherheit mit auszuschöpfen.
  • Lange Wartezeiten an Ampeln – zumindest bei geringeren Verkehrsstärken – reduzieren. Fußgänger neigen bei wenig Kfz-Verkehr ab 30 Sekunden Wartezeit zum Queren bei Rot und verursachen vermeidbare Unfälle. In Kfz-Schwachlastzeiten Umlaufzeiten senken.
  • Geringe Durchgangsverkehre durch Stadtmitte und Wohngebiete – verkehrsinduzierende Wirkung der St.-Petersburger-Straße zieht Verkehre von der BAB und Waldschlößchenbrücke ab.
  • Weniger Parksuchverkehr; Dresden hat ein Parkleitsystem, das kaum beachtet wird. Die Parkplätze auf öffentlichen Straßen und Plätzen sind günstiger und werden zunächst gesucht.