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Nach der Sachsen-Wahl: Haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt?

Wahlsiege von Rechtsextremen, deutsche Waffen in der Ukraine – hatten wir das nicht schon? Historikerin Barbara Ellerbrock sagt: Ja, aber anders. Denn Geschichte wiederholt sich nie.

Von Oliver Reinhard
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Die Aufstiege von NSDAP und AfD weisen Parallelen auf. Doch wer beides gleichsetzt, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Das Bild entstammt dem Bestand der SLUB/Deutschen Fotothek, die in diesem Jahr ihr 100. Bestehen begeht.
Die Aufstiege von NSDAP und AfD weisen Parallelen auf. Doch wer beides gleichsetzt, hat aus der Geschichte nichts gelernt. Das Bild entstammt dem Bestand der SLUB/Deutschen Fotothek, die in diesem Jahr ihr 100. Bestehen begeht. © Deutsche Fotothek

Wenn 85 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in Deutschland gewählt wird und Rechtsextremisten triumphieren, sitzen die populären Vergleiche von NS-Zeit und Gegenwart ganz besonders locker. Nicht anders verhält es sich seit Beginn des russischen Eroberungskrieges in der Ukraine mit Putin-Hitler-Gleichsetzungen So einfach ist das jedoch nicht, mahnt Barbara Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden, und warnt vor den Verlockungen solcher Simplifizierungen. Wir sprachen mit ihr darüber, ob die Geschichte eine Lehrmeisterin sein kann und wo ihre Grenzen liegen.

Frau Ellerbrock, vor 85 Jahren begann der deutsche Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug, der den Zweiten Weltkrieg auslöste. Angesichts des unverändert tobenden Eroberungskrieges Russlands gegen die Ukraine und des Gaza-Krieges: Was könnten wir für unsere aktuellen Situation aus der Geschichte lernen?

Wir könnten zunächst überlegen, was eigentlich unter „Lernen“ zu verstehen ist. Wenn wir einen Lernbegriff zugrundelegen, nach dem zwei plus zwei vier ist, der also nach Gesetzen fragt, die immer und universell gelten, kann man aus der Geschichte wenig lernen. Statt Gesetzen bietet Geschichte Einsichten, wie Menschen unter bestimmten Konstellationen, Voraussetzungen, Umständen und Bedingungen entscheiden. Diese Form von Wissen kann für aktuelle Situationen hilfreich sein.

Höre ich da ein Aber?

Eher ein „und“, denn gleichzeitig müssen wir all das immer unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass Geschichte sich nie wiederholt, dass sie immer kontingent ist, wie wir es nennen, dass sie immer zufällig und einmalig ist.

Nun leben wir in einer Zeit, in der die Gegenwart immer wieder mit der Geschichte verglichen wird, angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus besonders mit den frühen 1930er-Jahren oder, vonseiten der vielen BRD-DDR-Vergleicher, mit 1989.

Ja, das sind beliebte Vergleiche, die partiell berechtigt sind, teilweise aber auch stark vereinfachen und komplexe Zusammenhänge ausblenden.

Geschichtsbilder sind immer von der Gegenwart geprägt und werden häufig missbraucht, um aktuelle politische Entscheidungen zu legitimieren, sagt Professorin Dagmar Ellerbrock von der TU Dresden.
Geschichtsbilder sind immer von der Gegenwart geprägt und werden häufig missbraucht, um aktuelle politische Entscheidungen zu legitimieren, sagt Professorin Dagmar Ellerbrock von der TU Dresden. © privat

Wenn wir aber wissen können, dass Geschichte sich niemals wiederholt – warum wird trotzdem oft das Gegenteil behauptet, besonders gerne als Mahnung?

Das entspricht dem Wunsch, dass wir aus Erfahrung klüger werden und auch als Gesellschaft aus Erfahrung lernen könnten. Wenn Geschichte sich nicht unmittelbar auf die Gegenwart übertragen lässt, lautet das enttäuschte Resümee, wir hätten nichts aus ihr gelernt. Dabei stimmt diese Vereinfachung so nicht: Auch wenn es Parallelen gibt, kann die historische Konstellation eine ganz andere gewesen sein. Dafür müssen wir schon tiefer in die Geschichte eintauchen. Dann zeigt sich: Die historischen Akteure waren ebenso wie wir heute in komplexe Situationen gestellt und kannten das Ende der Entwicklung noch nicht. Sie mussten aus der aktuellen Situation heraus handeln. Die ganze komplizierte Gemengelage einer historischen Situation zu entfalten – dabei hilft Geschichtswissenschaft.

Was genau sehen wir da?

Eine Vielzahl mehr oder weniger ähnlicher historischer Situationen und Ereignisse. Nehmen wir etwa Revolutionen und große gesellschaftliche Umwälzungen, die durch die massive Abkehr von dem, was vorher war, geprägt waren. Wir wissen, dass die meisten dieser radikalen Umwälzungen im weiteren Verlauf Konflikte und Gewalt produzierten und sich keineswegs so friedlich vollzogen wie 1989 und die folgende deutsche Wiedervereinigung. Dies zu verstehen, setzt die – in vielen Punkten berechtigte Kritik am deutschen Wiedervereinigungsprozess in eine größere, besser informierte historische Perspektive.

Kann also die Geschichte doch eine Lehrmeisterin sein?

Gut, kommen wir noch mal auf Ihren Lernbegriff zurück: Aus der Geschichte gewonnene Modelle können Sie als Schablonen auf aktuelle Situationen legen und überprüfen: Was war ähnlich, was ganz anders? Es ist manchmal ein wenig wie beim Schachspiel, wo wir auch zwei oder drei Züge vorausdenken sollten, ohne genau zu wissen, wie der Gegner auf diese Züge reagiert. Mit historischem Wissen kann man längere Spielverläufe studieren und damit ein besseres strategisches Gespür entwickeln, was in bestimmten Situationen eine kluge Reaktion sein könnte und was möglicherweise eher kontraproduktiv wäre. Das heißt: Die Geschichte bietet einen kollektiven Erfahrungsschatz, der über individuell mögliche Lernerfahrungen hinausgeht.

Womit wir wieder vor der großen Hürde stünden: Diesen Erfahrungsschatz zu erschließen und zu nutzen, macht Mühe und kostet viel Zeit. Das muss man wollen. Es wollen und können aber nicht alle. Muss man das nicht respektieren?

Ja, vielleicht ist das so, andererseits ist die Möglichkeit, sich zu informieren und zu lernen auch ein großer Luxus. Relevant ist evtl. eine weitere Hürde: Wenn Menschen sich historisch informieren und, sich intensiver mit historischen Zusammenhängen befassen, müssen sie bereit sein, dort Einsichten zu gewinnen, die mit ihren eigenen Erinnerungen und Alltagsüberzeugungen nicht in Übereinstimmung zu bringen sind.

Dem begegnet man ja sehr oft, dass Menschen sagen: So wie sie in diesem und jenem Film über die Zeit vor 1989 dargestellt wird, so war die DDR doch überhaupt nicht!

Weil wir häufig glauben, dass das, was wir persönlich in unserem Umfeld zum Beispiel während der DDR-Zeit oder in der alten Bundesrepublik erlebt haben, auch die restlichen 18 Millionen ehemaliger DDR-Bürger oder 60 Millionen BRD-Bürger genau so erlebt hätten. Auch da trägt die historische Perspektive zu einer Präzisierung bei, zu einer historischen Einordnung der Zeitzeugenschaft, die zu einem genaueren Verständnis von Entwicklungen beitragen kann.

Die Geschichtswissenschaft hat noch ein Problem, das die Mathematik nicht hat: Jede Gegenwart schafft sich ihre eigenen Geschichtsbilder, die in der Zeit davor oft noch ganz anders aussahen.

Das ist zweifellos so. Geschichtsbilder sind immer von der Gegenwart geprägt und werden häufig missbraucht, um aktuelle politische Entscheidungen zu legitimieren.

Oder aktuelle Entwicklungen mit historischen zu parallelisieren, denn eine populäre Frage in diesem Zusammenhang lautet ja: Warum halten so viele die rechtsextreme AfD für eine ganz normale Partei – haben wir aus dem Aufstieg der NSDAP nichts gelernt?

Das würde auf eine einfache Gleichsetzung von NSDAP und AfD hinauslaufen, die ich als Historikerin für problematisch halte. Wesentliche Teilaspekte der NSDAP wie die einer rechten, populären Bewegung, die auf Simplifizierung der Probleme, einfache Lösungen und auf die unterschiedliche Bewertbarkeit von Menschen drängt – das würde ich für vergleichbar halten. Aber die Folgerung, dass wir nichts gelernt haben, würde ich differenzieren.