Nach der Sachsen-Wahl: Haben wir aus unserer Geschichte nichts gelernt?
Wahlsiege von Rechtsextremen, deutsche Waffen in der Ukraine – hatten wir das nicht schon? Historikerin Barbara Ellerbrock sagt: Ja, aber anders. Denn Geschichte wiederholt sich nie.
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Oliver Reinhard
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Wenn 85 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in Deutschland gewählt wird und Rechtsextremisten triumphieren, sitzen die populären Vergleiche von NS-Zeit und Gegenwart ganz besonders locker. Nicht anders verhält es sich seit Beginn des russischen Eroberungskrieges in der Ukraine mit Putin-Hitler-Gleichsetzungen So einfach ist das jedoch nicht, mahnt Barbara Ellerbrock, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden, und warnt vor den Verlockungen solcher Simplifizierungen. Wir sprachen mit ihr darüber, ob die Geschichte eine Lehrmeisterin sein kann und wo ihre Grenzen liegen.
Frau Ellerbrock, vor 85 Jahren begann der deutsche Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug, der den Zweiten Weltkrieg auslöste. Angesichts des unverändert tobenden Eroberungskrieges Russlands gegen die Ukraine und des Gaza-Krieges: Was könnten wir für unsere aktuellen Situation aus der Geschichte lernen?
Wir könnten zunächst überlegen, was eigentlich unter „Lernen“ zu verstehen ist. Wenn wir einen Lernbegriff zugrundelegen, nach dem zwei plus zwei vier ist, der also nach Gesetzen fragt, die immer und universell gelten, kann man aus der Geschichte wenig lernen. Statt Gesetzen bietet Geschichte Einsichten, wie Menschen unter bestimmten Konstellationen, Voraussetzungen, Umständen und Bedingungen entscheiden. Diese Form von Wissen kann für aktuelle Situationen hilfreich sein.
Höre ich da ein Aber?
Eher ein „und“, denn gleichzeitig müssen wir all das immer unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass Geschichte sich nie wiederholt, dass sie immer kontingent ist, wie wir es nennen, dass sie immer zufällig und einmalig ist.
Nun leben wir in einer Zeit, in der die Gegenwart immer wieder mit der Geschichte verglichen wird, angesichts des erstarkenden Rechtsextremismus besonders mit den frühen 1930er-Jahren oder, vonseiten der vielen BRD-DDR-Vergleicher, mit 1989.
Ja, das sind beliebte Vergleiche, die partiell berechtigt sind, teilweise aber auch stark vereinfachen und komplexe Zusammenhänge ausblenden.
Wenn wir aber wissen können, dass Geschichte sich niemals wiederholt – warum wird trotzdem oft das Gegenteil behauptet, besonders gerne als Mahnung?
Das entspricht dem Wunsch, dass wir aus Erfahrung klüger werden und auch als Gesellschaft aus Erfahrung lernen könnten. Wenn Geschichte sich nicht unmittelbar auf die Gegenwart übertragen lässt, lautet das enttäuschte Resümee, wir hätten nichts aus ihr gelernt. Dabei stimmt diese Vereinfachung so nicht: Auch wenn es Parallelen gibt, kann die historische Konstellation eine ganz andere gewesen sein. Dafür müssen wir schon tiefer in die Geschichte eintauchen. Dann zeigt sich: Die historischen Akteure waren ebenso wie wir heute in komplexe Situationen gestellt und kannten das Ende der Entwicklung noch nicht. Sie mussten aus der aktuellen Situation heraus handeln. Die ganze komplizierte Gemengelage einer historischen Situation zu entfalten – dabei hilft Geschichtswissenschaft.
Was genau sehen wir da?
Eine Vielzahl mehr oder weniger ähnlicher historischer Situationen und Ereignisse. Nehmen wir etwa Revolutionen und große gesellschaftliche Umwälzungen, die durch die massive Abkehr von dem, was vorher war, geprägt waren. Wir wissen, dass die meisten dieser radikalen Umwälzungen im weiteren Verlauf Konflikte und Gewalt produzierten und sich keineswegs so friedlich vollzogen wie 1989 und die folgende deutsche Wiedervereinigung. Dies zu verstehen, setzt die – in vielen Punkten berechtigte Kritik am deutschen Wiedervereinigungsprozess in eine größere, besser informierte historische Perspektive.
Kann also die Geschichte doch eine Lehrmeisterin sein?
Gut, kommen wir noch mal auf Ihren Lernbegriff zurück: Aus der Geschichte gewonnene Modelle können Sie als Schablonen auf aktuelle Situationen legen und überprüfen: Was war ähnlich, was ganz anders? Es ist manchmal ein wenig wie beim Schachspiel, wo wir auch zwei oder drei Züge vorausdenken sollten, ohne genau zu wissen, wie der Gegner auf diese Züge reagiert. Mit historischem Wissen kann man längere Spielverläufe studieren und damit ein besseres strategisches Gespür entwickeln, was in bestimmten Situationen eine kluge Reaktion sein könnte und was möglicherweise eher kontraproduktiv wäre. Das heißt: Die Geschichte bietet einen kollektiven Erfahrungsschatz, der über individuell mögliche Lernerfahrungen hinausgeht.
Womit wir wieder vor der großen Hürde stünden: Diesen Erfahrungsschatz zu erschließen und zu nutzen, macht Mühe und kostet viel Zeit. Das muss man wollen. Es wollen und können aber nicht alle. Muss man das nicht respektieren?
Ja, vielleicht ist das so, andererseits ist die Möglichkeit, sich zu informieren und zu lernen auch ein großer Luxus. Relevant ist evtl. eine weitere Hürde: Wenn Menschen sich historisch informieren und, sich intensiver mit historischen Zusammenhängen befassen, müssen sie bereit sein, dort Einsichten zu gewinnen, die mit ihren eigenen Erinnerungen und Alltagsüberzeugungen nicht in Übereinstimmung zu bringen sind.
Dem begegnet man ja sehr oft, dass Menschen sagen: So wie sie in diesem und jenem Film über die Zeit vor 1989 dargestellt wird, so war die DDR doch überhaupt nicht!
Weil wir häufig glauben, dass das, was wir persönlich in unserem Umfeld zum Beispiel während der DDR-Zeit oder in der alten Bundesrepublik erlebt haben, auch die restlichen 18 Millionen ehemaliger DDR-Bürger oder 60 Millionen BRD-Bürger genau so erlebt hätten. Auch da trägt die historische Perspektive zu einer Präzisierung bei, zu einer historischen Einordnung der Zeitzeugenschaft, die zu einem genaueren Verständnis von Entwicklungen beitragen kann.
Die Geschichtswissenschaft hat noch ein Problem, das die Mathematik nicht hat: Jede Gegenwart schafft sich ihre eigenen Geschichtsbilder, die in der Zeit davor oft noch ganz anders aussahen.
Das ist zweifellos so. Geschichtsbilder sind immer von der Gegenwart geprägt und werden häufig missbraucht, um aktuelle politische Entscheidungen zu legitimieren.
Oder aktuelle Entwicklungen mit historischen zu parallelisieren, denn eine populäre Frage in diesem Zusammenhang lautet ja: Warum halten so viele die rechtsextreme AfD für eine ganz normale Partei – haben wir aus dem Aufstieg der NSDAP nichts gelernt?
Das würde auf eine einfache Gleichsetzung von NSDAP und AfD hinauslaufen, die ich als Historikerin für problematisch halte. Wesentliche Teilaspekte der NSDAP wie die einer rechten, populären Bewegung, die auf Simplifizierung der Probleme, einfache Lösungen und auf die unterschiedliche Bewertbarkeit von Menschen drängt – das würde ich für vergleichbar halten. Aber die Folgerung, dass wir nichts gelernt haben, würde ich differenzieren.
Welche wäre angebrachter?
Eine politisch sinnvolle Frage wäre: Wie sind die Menschen vor 1933 mit den Nationalsozialisten umgegangen, und was war dabei erfolgreich, was nicht? Ein wesentlicher Faktor für das Scheitern der Weimarer Republik war die politische Landschaft aus Parteien, die nicht mehr koalitionsfähig waren und deshalb keine dauerhafteren stabilen Regierungsbündnisse zustande gebracht haben. Nur schnell wechselnde Koalitionen, die immer wieder Neuwahlen nötig gemacht haben, was die Demokratie auf Dauer destabilisierte. Auf unsere aktuelle Situation angewendet, wäre dann die Fragestellung: Welche Parteien sind demokratische Parteien? Und können diese demokratischen Parteien sich darauf einigen, unter allen Umständen miteinander zu kooperieren, um Extremisten den Zugang zur politischen Macht zu verwehren?
Diese Frage scheint doch beantwortet zu sein: Eine Brandmauer zur AfD gibt es nicht, vor allem nicht in Sachsen. Stattdessen mehren sich Stimmen, die sagen: Lasst die AfD doch mal in politische Verantwortung kommen.
... in der Hoffnung, dass die Partei sich dabei selbst entlarvt oder von demokratischen Koalitionspartnern eingehegt und sozusagen zivilisiert werden kann – ja, diese Ansichten gibt es und sie haben sich tatsächlich schon in Weimar als Fehleinschätzung erwiesen. Die NSDAP hat sehr schnell nach 1933 ihre Macht gewaltsam und mit undemokratischen Mitteln ausgebaut und gefestigt. Papen, Hindenburg und alle konservativen Bündnispartner lagen somit falsch, ein fataler historischer Irrtum. Aber es gibt auch Beispiele in der Gegenwart, die belegen, wie schnell Demokratien nachhaltig beschädigt werden können.
Was fällt Ihnen zuerst dazu ein?
Blicken wir in die jüngere amerikanische Geschichte, sehen wir etwas, was in meinen Augen die größte Gefahr darstellt: Donald Trump, der ebenfalls undemokratischen Prinzipien folgt, hat es etwa über die Besetzung von Richterposten geschafft, die demokratischen Institutionen des Staates von innen auszuhöhlen. Darin waren übrigens auch die Nationalsozialisten sehr schnell erfolgreich. Selbst jemand, der wie Trump nach vier Jahren wieder abgewählt wurde, kann Gerichte, Polizei und das Bildungswesen in kürzester Zeit so umbauen, dass diese Entwicklung jahrelang politisch einflussreich sein können.
Wir haben Anfang der Neunziger angesichts der Zeit davor viel optimistischer auf die Ost-West-Gemengelage geblickt als heute und 2002 ganz anders auf Russland als seit 2022. Wenn sich die Perspektiven also alle paar Jahrzehnte so verändern – sind Geschichtsbilder dann nicht ziemlich unzuverlässig?
Geschichtsbilder und Geschichtswissenschaft sind ja verschiedene Dinge. Die Zeitgeschichte erforscht wie alle Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft den Wandel. Sie versucht, Veränderung zu verstehen. Insofern sind sich wandelnde Geschichtsbilder für die Zeithistorikerin nicht überraschend, sondern erwartbar, aufgrund sich verändernder historischer Konstellationen. Und damit sind wir bei einer ganz grundlegenden Lernerfahrung: Man muss sich auf Wandel einlassen. Manchmal fällt das besonders Menschen schwer, die sich intensiv für Geschichte interessieren.
Warum?
Weil sich einige vor allem für Kontinuität und Identitäten interessieren. Weil sie versuchen, ihre eigenen Unsicherheiten, Sorgen und Fragen einer komplexen Gegenwart durch Bezugnahme auf die Geschichte abzupuffern und zum Beispiel zu sagen: Ich weiß Bescheid, ich habe Orientierung, denn alles ist heute wieder wie 1933 oder 1989. Dagegen ist grundsätzlich auch nichts einzuwenden, denn diese Neigung, sich die Gegenwart historisch zu erklären, und zu versuchen sie so emotional in den Griff zu bekommen, ist ein zutiefst menschliches Grundbedürfnis. Aber wenn man die Erkenntnis zulässt, dass der Wandel das bestimmende Wesensmerkmal von Geschichte ist, erst dann kann man auch verstehen, dass Identitäten erst durch die Geschichtsbilder, die wir uns erzählen, geschaffen werden, und historische und politische Zustände immer fragil sind. Man kann das bedauern, aber das ist der Lauf der Dinge, das war er schon immer und eben diese Vielfältigkeit und Wandelbarkeit macht die Geschichte aus meiner Sicht so spannend.
Ein großer Wandel der jüngsten Zeit fand mit dem russischen Überfall auf die Ukraine 2022 statt. Das war vor allem eine politische Zäsur, aber ich habe den Eindruck, es hat vielfach auch unseren Blick auf die Geschichte verändert. Würden Sie zustimmen?
Absolut. 2022 hat längst vergessene historische Risiken wieder aktualisiert. Risiken, die wir für überwunden gehalten hatten, die im Verborgenen aber offenkundig weiterbestanden haben. Ich habe neulich in einer Vorlesung über Europa und seine Beziehung zum Krieg gesprochen. Die Europäische Union ist eine kluge Antwort auf zwei große Weltkriege, in denen sich der Kontinent zerfleischt hatte. In Zeiten von Brexit und europafeindlichem Populismus droht dieser wichtige historische Kontext in Vergessenheit zu geraten. Verbunden mit der Gründung der EU war die Hoffnung, dass Europa, seine wirtschaftliche Zusammenarbeit und sein Parlament, in dem Konflikte im Worten statt mit Waffen gelöst werden sollten, dauerhaften europäischen Frieden bringen werde. Das ist der Grund, warum die Armeen in vielen europäischen Ländern nicht mehr so kostenintensiv gepflegt wurden, wie in den Zeiten von lautem Säbelrasseln.
Weil man nach 1990 glaubte, man brauche keine wirklich einsatzfähigen Armeen mehr?
Ja, das war die Hoffnung für die Zukunft, dass wir aus der Geschichte gelernt hätten, Krieg und Gewalt hinter uns zu lassen und daher in Deutschland auch die Wehrpflicht abgeschafft haben. Europa war über Jahrhunderte hinweg vom Krieg gebeutelt war, die Bevölkerungen hatten zum Teil 30 Prozent Kriegsopfer zu beklagen, und mache Generationen kannten nur den Kriegszustand. Es gab den 30-jährigen Krieg, den sogenannten 100-jährigen Krieg, und letztlich setzte sich das fort bis ins 20. Jahrhundert. Und plötzlich, nach 1945, gelang es tatsächlich, diesen Kontinent zu befrieden, mit Ausnahme des Jugoslawienkriegs. Das ist die wunderbare und große Erfolgsgeschichte Europas. Und wir haben die Hoffnung gepflegt, das Zeitalter zumindest der europäischen Kriege wäre überwunden.
Der Jugoslawienkrieg hat ja einen bemerkenswerten Wandel für Deutschland gebracht. Zuvor wurden Auslandseinsätze prinzipiell abgelehnt mit der Begründung: Nie wieder Auschwitz!
Richtig, das Credo lautete: Die Besetzung fremder Nationen und der Völkermord an Nachbarn dürfe sich nie wiederholen.
Nach dem bosnisch-serbischen Genozid an 8.000 Muslimen in Srebrenica aber wurden plötzlich mit derselben Begründung Auslandseinsätze legitimiert: So etwas wie Auschwitz wiederholt sich grad, das muss verhindert werden!
Daran sehen Sie, wie kompliziert es ist, für gegenwärtige Konfliktfälle historische Argumente heranzuziehen. Gleichzeitig ist Geschichte, wenn man sie solide wissenschaftlich und politisch seriös betreibt, natürlich kein unendlich dehnbarer und instrumentalisierbarer Argumentationsladen. Und letztendlich war die Intervention im Falle von Srebrenica ja eine durchaus legitime, denn man wollte Menschheitsverbrechen wie einen Genozid verhindern. Auch mit Blick auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine ist eine grundlegende Umcodierung zu beobachten: Vor zehn Jahren wäre es ganz undenkbar gewesen, dass eine große Zahl Deutscher es irgendwann befürworten würde, deutsche Waffen gegen Russland einzusetzen.
Was hat sich da verändert und wie?
Heute gibt es viele Menschen, die den Eindruck haben: Wer gegen den Einsatz deutscher Waffen in der Ukraine argumentiert, ist ein Putinversteher. Eine grundlegende argumentative Kehrtwende. Dieses Umcodieren erleben wir oft in der Geschichte, wenn es eine grundlegende strukturelle Veränderung gibt, verändern sich häufig Rechts-Links-Konstellationen – ein extrem spannendes Phänomen. Aber wenn man weiß, dass so etwas häufig geschieht, ist allein diese Umcodierung nicht besonders aufregend – wirklich interessant ist es zu verstehen, warum sie stattfindet und auf welche Weisen sie sich vollzieht. Also wieder: Es geht darum, Wandel zu verstehen.
Bis 2022 war es inoffizielle deutsche Staatsräson, wegen der deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg in der Sowjetunion niemals militärisch gegen Russland vorzugehen, auch nicht mit Waffenlieferungen, und Russland gegenüber stets versöhnlich und als Brückenbauer aufzutreten. Und jetzt?
Jetzt hat sich das gewandelt, weil wir anders auf das Thema Täter- und Opfernationen blicken. Bis 2022 waren wir die Täternation. Eine historisch völlig korrekte Interpretation. In ganz Russland findet sich wahrscheinlich keinen einzigen Friedhof ohne Gräber von Menschen, die von deutschen Wehrmachtsoldaten oder SS-Einheiten getötet wurden. Jetzt plötzlich ist in den Augen vieler Deutscher dieses russische Volk, dem wir so viel Leid angetan haben, selber eine Täternation. Auch korrekt. Beides stimmt gleichzeitig, denn Putins Aggressionen gegen die Ukraine kann die deutsche Tätergeschichten des Zweiten Weltkriegs nicht umschreiben. Nazideutschland hat die UdSSR überfallen, deutsche Politiker und Soldaten waren die Aggressoren des Zweiten Weltkriegs an diesem historischen Fakt ändern nachfolgende politische Kriege, die von Russland begonnen wurden nichts.
Russland ist aufgrund der Massaker wie in Butscha und der großen Unterstützung der großen Bevölkerungsmehrheit in Russland für Putins Kriegspolitik in den Augen vieler Deutschen zur Täternation geworden. Ist das nicht einer der bemerkenswertesten Wandel im Verhältnis der beiden Länder überhaupt?
Ohne Zweifel, und gleichzeitig differenzieren Historiker auch hier wieder: Wir wissen aus der Geschichte, dass niemals eine komplette Bevölkerung ein Tätervolk war. Und wir wissen, welchen Einfluss Erziehung und Propaganda haben. Wenn man nach den Lehren der Geschichte fragt, so gilt auch hier, es ist komplex – und die reflexhafte Gleichsetzung von Putin mit Hitler historisch irreführend.
Kann es sein, dass wir aus der Geschichte nie vorausschauend für die Zukunft lernen, sondern immer nur anlassbezogen in der Gegenwart, wenn es für wirklich wirksame Prävention längst zu spät ist?
Dazu kann ich nur Vermutungen anstellen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass Politiker wir immer kurzfristiger denken. Der Grund für meine Vermutung ist etwa unser Umgang mit der Corona-Pandemie. Die Vorbereitung auf eine mögliche Pandemie war unprofessionell, vorsichtig ausdrückt. Einsichten historischer Katastrophenszenarien waren und sind in Vergessenheit geraten. Es gibt zwar ein Amt für Katastrophenschutz mit Plänen und Vorgaben für den Ernstfall. Aber die wurden der Bevölkerung überhaupt nicht mehr kommuniziert, sodass wir auf eine Katastrophensituation gar nicht mehr eingestellt waren, weder die Bevölkerung noch große Teile der politischen Akteure.
Ich nehme an, das war in den Zeiten der europäischen Kriege und selbst in den Jahren des Kalten Krieges noch anders?
Ja, der Generation meiner Großmutter war noch völlig klar: Du solltest immer bestimmte Lebensmittelvorräte zurücklegen, genügend Trinkwasser haben und ein sicheres Behältnis für deine Dokumente bereithalten. Das, was man heute abfällig „Preppern“ nennt, entsprach den Richtlinien des Amtes für Katastrophenschutz. Dann verblasste dieses Wissen um Katastrophenschutz, und während der Corona-Epidemie gab es am Anfang sogar das irre Phänomen, dass alle Klopapierkäufer gedisst wurden. Wobei man eigentlich denken sollte: Liebe Leute, wir haben eine Notsituation, und wenn ich krank werde, in Quarantäne komme und zu Hause bleiben muss, dann kann ich nicht mehr einkaufen gehen, brauche aber doch nicht nur Lebensmittel, sondern auch Klopapier.
Welches Resümee zieht die Geschichtswissenschaftlerin?
Was man mit historischer Evidenz auf Basis unserer Erfahrungswerte sagen kann: Wer aus zurückliegenden Katastrophenfällen lernt, ist besser auf Feuer, Hochwasser oder Seuchenzüge vorbereitet, was gerade in Zeiten eines immer extremer werdenden Klimas ja immer wichtig wird. Bemerkenswerterweise haben wir das in unserer Gesellschaft zurückgefahren. Die langen Friedensjahre hatten das fragile Lebensgefühl zurückliegender Generationen offenbar umgeformt.
Weil wir erleichtert waren, uns so lange Zeit in Sicherheit wähnen zu können, und daher keinen Grund mehr für Vorsorge sahen?
Ich bin der festen Überzeugung: Hätte die Politik während der Corona-Krise nicht nur primär Virologen um Rat gefragt, sondern auch früher Historiker in die Diskussion einbezogen, wären viele Entscheidungen viel geschmeidiger getroffen worden. Und ich bin überzeugt davon, dass ein Grund für die politischen Verwerfungen, die sich infolge der Corona-Maßnahmen ergaben, darin liegt, dass in unserer Gesellschaft die Erinnerung daran verloren haben, was Seuchen eigentlich bedeuten. Wenn Sie sich mal die Todeszahlen von großen Cholera-, Diphtherie- und Masern-Epidemien anschauen, die waren zum Teil gigantisch. Vor diesem historischen Wissen sind Vorsorgemaßnahmen anders zu gewichten, als dies in populistischen Diskussionen stattfindet.
Läuft das anderswo besser?
Es gibt Gesellschaften, vor allem in Einwanderungsländern wie Kanada, die sich partiell historisch präziser erinnern und zum Beispiel konsequente Impfprogramme haben, die sie rigoros durchsetzen. Auch da sollten wir uns die Frage stellen: Was könnten wir aus der Geschichte lernen, was hätten wir längst lernen können und wo lernen andere Gesellschaften effizienter?
Unser Umgang mit der Geschichte ist immer selektiv, wir wählen oft aus, woran wir uns erinnern wollen. Ist das nicht auch riskant, weil es gerade in schwierigen Zeiten dazu führt, dass wir uns vorzugsweise an schöne Dinge erinnern und man immer wieder den Spruch hört: Früher war alles besser?
Das ist so, hat aber mit Geschichtswissenschaft nichts zu tun. Das ist eher ein psychologisches Phänomen. Wenn Sie sich an Ihren letzten Urlaub erinnern, denken Sie sich wahrscheinlich nicht an die zwei Regentage im Zelt, sondern an die wunderschönen Sonnentage am Strand. Wir neigen dazu, die schlechten Tage und Stunden auszublenden, was auch unser eigenes Wohlbefinden unterstützt. Geschichtswissenschaft muss dieser selektiven Erinnerung entgegentreten, indem sie wissenschaftlich Historizität in komplexen Entwicklungen rekonstruiert.
Viele Menschen erinnern sich aber auch nur an die schönen Seiten ihrer Leben in den deutschen Diktaturen und marginalisieren das Unschöne oder blenden es sogar aus. Muss nicht gerade eine Historikerin das ziemlich schwierig finden?
Das ist die Perspektive der Zeitzeugen und hat vielfältige Motive. Wir wollen zum Beispiel bestimmte Aspekte unserer Biografien konservieren, andere nicht. Das heißt, bestimmte Erinnerungsmechanismen sorgen dafür, dass wir in Frieden mit unseren individuellen Vergangenheiten leben können, das ist ja auch sehr wichtig. Es gehört zu den historischen Fakten, dass es einen Alltag im Nationalsozialismus gab, dass man lachte und tanzte und heiratete und feierte und dabei völlig ausblendete, dass gleichzeitig an anderer Stelle in diesem Land Menschen verfolgt, eingesperrt, gefoltert, in Richtung Gaskammern deportiert wurden.
Es gibt immer auch einen Alltag in Diktaturen.
Die Geschichtswissenschaft hat eine Methodik entwickelt, auch mit diesen Alltagserinnerungen wissenschaftlich umzugehen, Und es hilft, gemeinsam mit anderen Wissenschaften wie der Psychologie, zu verstehen, wie vielschichtig menschliche Erinnerungspfade sind und unter welchen Voraussetzungen sie wie verlaufen.
Womit wir bei der Rolle von Medien und die Wirkung der Polarisierung des öffentlichen Diskurses angelangt wären. Ist deren Bedeutung in den Jahren vor und nach 1933 mit deren Wirkungsmacht in der Gegenwart vergleichbar?
In ihren Grundzügen und ihrer Wirkung – ja. Heute wird diese Gefahr durch die sozialen Medien intensiviert, damals durch den verlorenen Ersten Weltkrieg und die desolate Wirtschaftslage. Die sozialen Medien müssten wir dringend regulieren, was sehr schwierig ist. Die Infiltration demokratischer Institutionen auf legalem Wege und die Polarisierung des öffentlichen Diskurses sind die allergrößten Gefahren für das Funktionieren unserer politischen Landschaft und den Zusammenhalt der Gesellschaft überhaupt. Das können wir, glaube ich, in jedem Fall bilanzieren: Wer diese beiden Strategien erfolgreich bespielt, hat leider viel aus der Geschichte gelernt.