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Legendärer Sieg vor 50 Jahren: Wie DDR-Fußballer um Croy heimlich auf der Reeperbahn feierten

Bei der Fußball-WM 1974 bezwingt die Auswahl aus dem Osten den großen Favoriten BRD. Einige Spieler feiern mit Zitronenlikör und im Vergnügungsviertel. Das Duell ist politisch aufgeladen.

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Der Torhüter von Sachsenring Zwickau und der DDR-Nationalmannschaft, Jürgen Croy, bejubelt mit seinen Teamkollegen 1974 bei der WM den Sieg über die BRD. (
Der Torhüter von Sachsenring Zwickau und der DDR-Nationalmannschaft, Jürgen Croy, bejubelt mit seinen Teamkollegen 1974 bei der WM den Sieg über die BRD. ( © dpa

Berlin. Mit viel Alkohol und "im Swimmingpool" hatte die Party der DDR-Fußballer nach dem historischen WM-Sieg 1974 gegen die Bundesrepublik Deutschland begonnen. Für einige Spieler endete sie auf der Reeperbahn. "Wir waren einfache Burschen, und wir hatten so viel gehört von der Reeperbahn in Hamburg, und wir wollten dieses sündige Viertel mal mit eigenen Augen sehen", sagte der Torhüter der 74er-Mannschaft, Jürgen Croy.

Das 1:0 gegen den späteren Weltmeister um Franz Beckenbauer war für die DDR-Spieler ein geschichtsträchtiger Erfolg, der gefeiert werden musste. Und so bequatschten "zwei, drei Spieler" der Auswahl aus dem Osten ein paar Sicherheitskräfte und stürzten sich anschließend ins Hamburger Nachtleben. Auch wenn dem Vergnügungs- und Partyviertel rund um die Reeperbahn auch schon damals ein gewisser Ruf vorauseilte - die Spieler blieben brav.

Jürgen Croy
Jürgen Croy © dpa

"Wir waren so zahm, wie man sich nur denken kann. Wir sind mal rechts hoch gelaufen und rechts runtergelaufen, haben uns das Ganze angeschaut", berichtete Croy 50 Jahre später. "Die haben uns die Herbertstraße gezeigt mit dieser Bretterwand, dass hier die Sünde zu Hause ist. Und dann saßen wir in einer Kneipe und haben Zitronenlikör getrunken, wir waren so zwei, drei Spieler und sind dann früh bei Sonnenaufgang nach Quickborn rausgefahren." Dort war das Teamquartier.

Am Ende blieb Croys nächtlicher Ausflug mit seinen Teamkollegen unbemerkt. "Wir haben uns hintenrum geschlichen auf die Terrasse und plötzlich kam einer unserer hohen Funktionäre zur Tür raus und sagt: "Jungs, euch geht’s wie mir, ihr könnt nach diesem Spiel auch nicht schlafen. Wir haben das Frühstück um zwei Stunden nach hinten verschoben". So konnten sich Croy und Co. doch noch einmal hinlegen.

Auch 50 Jahre nach dem einzigen Aufeinandertreffen der Fußball-Nationalmannschaften der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland ist der sensationelle 1:0-Erfolg der DDR-Auswahl durch den Treffer des Magdeburgers Jürgen Sparwasser legendär - ebenso wie das Drumherum und die sportlichen Folgen.

Die WM-Spieler der DDR-Nationalmannschaft von 1974 treffen sich zum 50-jährigen Jubiläum an der Ostsee im Strandhotel Fischland in Dierhagen.
Die WM-Spieler der DDR-Nationalmannschaft von 1974 treffen sich zum 50-jährigen Jubiläum an der Ostsee im Strandhotel Fischland in Dierhagen. © dpa

Die Niederlage gegen den Außenseiter brachte das pomadig auftretende DFB-Team um Kapitän Franz Beckenbauer erst auf den Weg zum zweiten WM-Titel. Die Gewinner von Hamburg - mittlerweile in Ehren ergraut - treffen sich noch heute, schwelgen in Erinnerungen und räumen mit Mythen auf.

Die DDR politisierte das Spiel

Für die DDR wurde die Gruppenauslosung am 5. Januar 1974 in Frankfurt am Main zum Alptraum - zumindest für die Staatsführung. Während sich die ostdeutschen Fans auf die Partie mit den nur vom Fernsehen bekannten West-Stars Beckenbauer, Sepp Maier, Paul Breitner und Co. bereits Monate vorher freuten, liefen in den Schaltzentralen in Ost-Berlin aufwendige Vorbereitungen.

Wie schon beim ersten deutsch-deutschen Europapokal-Duell zwischen Dynamo Dresden und dem FC Bayern München im Herbst 1973 wurde alles generalstabsmäßig geplant, weil dem Klassenfeind nicht zu viel Aufmerksamkeit entgegengebracht werden durfte. Das ging so weit, dass nur handverlesene Genossen, möglichst mit engen Kontakten zum Staatssicherheitsdienst der DDR (Stasi), deklariert als Schlachtenbummler, zur Partie nach Hamburg reisen durften. Völlig egal, ob sie sich überhaupt für Fußball interessierten. Von 1.600 mitgereisten DDR-Zuschauern unter den 60.400 Besuchern ist die Rede. Auf der Ehrentribüne saß auch der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt.

"Ich war vor dem Spiel ein bisschen enttäuscht, was die Tribüne angeht. Wir hatten gehofft, dass Erich Honecker kommt, aber der durfte ja nicht. Der durfte nicht reisen, der hat ja Westverwandtschaft in Saarbrücken gehabt, kein Reisekader gewesen", sagte Sparwasser (76) scherzhaft bei einem Treffen der ehemaligen Spieler im Mai im Ostseebad Dierhagen über den einstigen Staats- und Parteichef der DDR.

Er wehrt sich vehement gegen die Einschätzung, dass auch die DDR-Spieler die Partie als Klassenkampf gesehen hätten. "Diese Frage wird immer wieder mal gestellt in Interviews. Diese Frage wird gestellt von Journalisten, die aus dem Westen kommen. Ich glaube nicht, dass man diese Frage Paul Breitner oder Uli Hoeneß stellen würde", sagte Sparwasser.

Kein Spiel für den Ministerrat

Für ihn und seine Teamkollegen ging es um Fußball. "Für uns war es die große Chance, unser sportliches Können zu zeigen. Wir haben für uns gespielt, unsere Familien, unsere Fans, und nicht für einen Ministerrat, das Zentralkomitee oder einen Staatspräsidenten", sagte Torhüter Jürgen Croy. Er hielt in dieser Partie den Sieg mit einigen Glanzparaden fest, wurde dadurch ebenso zu einer Ost-Fußball-Legende wie alle anderen. Sparwasser überstrahlt durch sein Tor in der 77. Minute bis heute jedoch alle.

"Ich war derjenige, der ihn reingemacht hat, aber wenn ich diese Leute nicht neben mir gehabt hätte, auch die, die auf der Bank gesessen haben und auch die Funktionäre und die Mitarbeiter unseres Stabes, dann wäre das nicht passiert", sagte der frühere Magdeburger Stürmer. Eigentlich wollte er gar nicht mehr über den Treffer gar nicht mehr reden. "Irgendwann stehst du richtig in deinem Leben."

Beim Pass des eingewechselten Erich Hamann habe er sich verrechnet. "Es war bescheuert, in diese Position zu laufen. Ich kann es heute nicht erklären, warum ich überhaupt gelaufen bin. Der Ball springt auf, ich wollte ihn mit der Brust nehmen, da habe ich ihn auf meine kleine Stupsnase bekommen, da hat sich der Laufweg verändert, die drei, die mich verfolgt haben, haben gestoppt, da war ich vorbei. Es war auch Glück dabei" schilderte er 50 Jahre danach die Szene. Berti Vogts und Horst-Dieter Höttges hatten genauso das Nachsehen wie Torhüter Maier.

DDR-Sieg sorgt für Krisentreffen bei DFB-Team

Der Sieg wurde im Osten des Landes überschwänglich gefeiert. Die von Helmut Schön trainierte bundesdeutsche Auswahl hatte indes Zoff in ihrem ungeliebten Quartier in Malente. Beckenbauer redete Klartext, die Mannschaft raufte sich in einer legendären Nacht zusammen und startete durch. Mit dem Wissen, in der Zwischenrunde durch die Niederlage die durchaus leichtere Gruppe zu haben.

Während die DDR gegen Brasilien und die Niederlande verlor und gegen Argentinien unentschieden spielte, zog die DFB-Auswahl mit Siegen über Jugoslawien, Schweden und Polen ins Finale ein. In München bescherte der 2:1-Erfolg über die Niederlande den zweiten Titel - auch bejubelt im Osten Deutschlands.

Durch die Köpfe der DDR-Spieler geistert bis heute der Gedanke, ob es gut war, in Hamburg auf Sieg zu spielen. Beide Teams standen vor dem Spiel als Zwischenrunden-Teilnehmer fest. "Als Fehler würde ich es nicht mehr bezeichnen, möglicherweise habe ich es auch nie getan. Was ich immer wieder anmahne ist, wir sind zu blauäugig in diese Partie gegangen.

Wohl im Wissen, dass wir die Zwischenrunde schon erreicht haben", sagte der Jenaer Lothar Kurbjuweit (73). "Da hätte man mit ein wenig Überlegung schon zu dem Schluss kommen können, vielleicht ist es besser, man geht in die andere Gruppe, denn das war ja schon absehbar. Aber die Euphorie war bei uns so groß, da hat sich keiner getraut, diese Geschichte zu überdenken."

Trotz des nicht zufriedenstellenden weiteren WM-Verlaufes: Die DDR-Kicker sehen die einzige Teilnahme des Landes an einer Weltmeisterschaft als Erfolg. "Ich bin der Meinung, eine Fußball-Weltmeisterschaft ist für einen Fußballer das Größte, was es gibt, und da sind die Olympischen Spiele doch noch etwas dahinter", sagte der Rostocker Gerd Kische (72). Der Magdeburger Martin Hoffmann betonte: "Dieses Ziel zu erreichen, ist nicht nur, wenn man dort ist, es gab auch eine Qualifikation. Ich denke, zu dem Zeitpunkt konnte man noch nicht begreifen, welche Bedeutung das im Nachhinein hat." (dpa)