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Corona im Erzgebirge: Leben im Risikogebiet

Der Erzgebirgskreis wurde zum ersten Risikogebiet Sachsens erklärt. Tourismusziele wie Oberwiesenthal trifft das schwer. Ein Besuch.

Von Franziska Klemenz
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Annett Siegel und ihr Zwerg-Collie Jacky können bislang noch nicht über zu wenig Kundschaft im „Männel-Laden“ klagen.
Annett Siegel und ihr Zwerg-Collie Jacky können bislang noch nicht über zu wenig Kundschaft im „Männel-Laden“ klagen. © Jürgen Lösel

Der schlimmste Tag war dieser Dienstag für Olaf Thimmig nicht. „Das ganze Jahr war schrecklich“, sagt der Direktor der drei Rathaus-Hotels in Oberwiesenthal und stößt ein bitteres Lachen aus. Zu den schlimmeren Tagen zählt er den Dienstag aber. Seitdem gilt der Erzgebirgskreis als erstes sächsisches Risikogebiet im Corona-Herbst 2020. Die Grenze von 50 Fällen auf 100.000 Einwohner binnen einer Woche hat der Landkreis am Wochenende überschritten. Am Dienstag ist der Wert auf 67 gestiegen. Am Donnerstag auf 68,7.

„Kurz nach der Bekanntmachung stand das Telefon nicht mehr still.“ Zwei Busse mit Touristen: Storniert. „12.000 Euro einfach mal weg.“ Olaf Thimmig hat die Ellbogen auf die Holzlehnen eines Sessels in der Hotelbar gestützt, an diesem Donnerstagvormittag ist er der einzige Gast. „Letzte Woche hätte ich gesagt: Es läuft sensationell. Seit Dienstag regnen Stornierungen im Sekundentakt rein.“ 400 Absagen seien eingegangen. Im März seien es an einem Tag mal 2.000 gewesen. Der gebürtige Berliner Thimmig ist seit 2014 Direktor der Rathaus-Hotels in Deutschlands höchstgelegener Stadt nahe der tschechischen Grenze. Eine Frau mit Bluse und Weste serviert ihm Kaffee. „Dankeschön, meine Misko, du bist sehr lieb“, sagt er und erklärt: „99 Prozent unserer 50 Mitarbeiter kommen aus Tschechien.“ Die Grenzschließung im März sei eine Katastrophe gewesen.

Thimmig nippt an seinem Kaffee. „Der Sommer war super. Aber den Großteil konnte er nicht wettmachen.“ Bis jetzt hätten die Hotels mit ihren 135 Zimmern dieses Jahr 39.000 Gäste beherbergt. Im Vorjahreszeitraum waren es 51.000.

Direktor Olaf Thimmig bangt um die drei Rathaus-Hotels in Oberwiesenthal.
Direktor Olaf Thimmig bangt um die drei Rathaus-Hotels in Oberwiesenthal. © Jürgen Lösel

Gut 24.000 Menschen leben im Erzgebirge direkt vom Tourismus. Zu Jahresbeginn hatte der Branchenverband des Erzgebirges, das weit über den Erzgebirgskreis hinausragt, noch jubiliert. Mit 3,18 von sachsenweit gut 20 Millionen Übernachtungen erreichte man 2019 einen Rekordwert. Die Unesco hat die Montanregion vergangenes Jahr zum Welterbe erklärt, man freute sich darüber, dass sie dank Montainbike-Touren, Rodelbahnen und Wanderrouten zum Ganzjahresziel geworden sei.

Besonders im Juli und August 2020, so der Verband, seien Anfragen gestiegen. „Die Verluste aus dem Frühjahr können aber kaum wettgemacht werden.“ In den ersten sieben Monaten gab es ein Drittel weniger Übernachtungen als 2019, im Juli ein Achtel. Mit Blick auf Oberwiesenthal, eins der beliebtesten Erzgebirgsziele, sagt Bürgermeister Mirko Ernst: „Der touristische Sommer war sehr durchwachsen.“ Ab Mai habe die Nachfrage aber angezogen, bis Ende September habe es einen „deutlichen Zuwachs im Tagestourismus“ und teilweise bei Übernachtungen gegeben.

Lokale Hotspots gibt es nicht

Die meisten Gäste der Rathaus-Hotels kommen aus Berlin, Brandenburg, Thüringen, Sachsen. „Ich telefoniere gerade mit allen Gästen persönlich“, sagt Thimmig. „Wenn jemand für November stornieren will, sag ich: Bitte wartet noch. Ihr könnt bei uns bis zum Anreisetag kostenlos stornieren. Mein Hauptjob ist jetzt Telefondienst und Seelsorge.“ Corona-Leugner sei er bei all dem Ärger nicht. „Corona ist da und es sind zu viele daran gestorben. Aber ich will von der Politik konkrete Informationen. Nicht mal die Gesundheitsämter können unseren Gästen sagen, was sie machen sollen. Wenn die Leute nicht mehr reisen, ist das ein Todesurteil für uns.“

Um öffnen zu können, habe man viel investiert. Allein die 60 Plexiglas-Scheiben zwischen den Tischen hätten 12.000 Euro gekostet. „Unsere Gäste müssen in allen öffentlichen Bereich Mundschutz tragen, alle Mitarbeiter tragen Handschuhe, alle Zimmer werden vor der Reinigung desinfiziert.“ Von der Politik wünsche er sich die Maßnahmen am Ort der Infektion. Die gemeldeten Fälle im Kreis stammen vor allem aus Schulen. Lokale Hotspots gibt es nicht. Anders als in Ischgl, Mallorca oder anderen Urlaubsregionen hat diesmal nicht der Tourismus die Zahlen getrieben.

Noch ist der Grenzübergang zu Tschechien von Oberwiesenthal aus möglich. Dort steigen die Corona-Fälle noch extremer an.
Noch ist der Grenzübergang zu Tschechien von Oberwiesenthal aus möglich. Dort steigen die Corona-Fälle noch extremer an. © Jürgen Lösel

Eine Touristin aus Mecklenburg-Vorpommern, die abreisebereit im Windfang steht, hat gerade mitbekommen, dass sie sich in einem Risikogebiet befindet. Fünf Tage hat sie hier verbracht. „Och ne, heißt das, wir müssen Zuhause in Quarantäne?“ Ein Hotel-Handwerker sag: „Is‘ in jedem Bundesland anders.“ Vom Tourismusverband heißt es, dass die Anfragen von Gästen und Vermieterin „eine allgemeine Verunsicherung“ bestätigen. „Hier ist der Beratungsbedarf deutlich höher. Die Entscheidung, ob man seinen Urlaub antritt oder verschiebt, liegt im Ermessen jedes Einzelnen.“ Ein Paar aus Freiberg gibt sich gelassen. Man sei am Mittwoch angereist, sagt ein Mann mit „Rammstein“-Maske. „Hier halten sich doch alle an die Vorschriften.“

Im Laden von Annett Siegel sind die meisten Gesichter maskenfrei. Es wird musiziert, geraucht und getanzt, uniformierte Männer mit Bärten, eckigen Kiefern und goldenen Knöpfen blicken auf die Szenerie herab. Annett Siegel betreibt eine Kunststube mit Holzhandwerk. Viren können die Figuren aber nicht verbreiten. Sie atmen nicht. Lackierte Kinder mit pfirsichfarbenen Wangen halten in einer Vitrine der Edelmarke „Wendt und Kühn“ Maiglocken und Margeriten, ein Engel mit nacktem Po sitzt an einer Orgel vor Notenblättern mit „Ihr Kinderlein, kommet“.

„Was glauben Sie, wie viele Kinder wir schon als Stammkunden haben?“, fragt Siegel mit übersprudelnder Stimme. Am 1. November ist es zehn Jahre her, dass die 46-Jährige den Laden übernommen hat. Auch jetzt, nachdem der Kreis zum Risikogebiet erklärt wurde, seien noch viele Urlauber da. Verboten sind Übernachtungen nicht, solange die Gäste nicht aus Risikogebieten kommen. „Aber wenn der Zufluss in die Hotels stoppt, werden wir das merken.“ Rund zehn „Männel-Läden“ gibt es in Oberwiesenthal. Neben dem Skiverleih ist es der zweite Einzelhandelszweig. „Wir sind positiv eingestellt und machen alles möglich, damit wir gut durchkommen. Ich versuche, keine Angst aufkommen zu lassen.“

"Jetzt in dieser blöden Zeit wollen die Leute was fürs Herz", sagt Annett Siegel.
"Jetzt in dieser blöden Zeit wollen die Leute was fürs Herz", sagt Annett Siegel. © Jürgen Lösel

Für Menschen seien Masken zumutbare, findet Siegel. Nur Zwerg-Colly Jacky darf seine Nase zeigen. Der Rüde wedelt mit seinem Puschel-Schwanz, als er seinen Namen hört. So wenig Kundschaft wie diesen Frühling hat der Neunjährige selten erlebt. „Dass ich sechs Wochen lang zu machen musste, war schlimm. Oberwiesenthal lebt nicht von den Einheimischen. Ohne Touristen ist es hier tot.“

Annett Siegel ist selbst gebürtige Oberwiesenthalerin. Mit 17 zog sie für die Ausbildung zur Hotelfachfrau, Eventmanagerin und Betriebsfachfrau nach Baden-Württemberg. Nach 19 Jahren in der Ferne kam sie zurück. „Schon mein Vater war ein Holzwurm, hat Schwibbogen und Räuchermännel hergestellt.“ Im Corona-Sommer hätten die und andere Figuren sich noch besser verkauft. „Die Leute konnten keine teuren Reisen machen, waren bereit, mal fünf Euro mehr auszugeben. Wenn es so weitergeht, kommen wir mit einem blauen Auge davon“, sagt Siegel und versetzt ihrem Kopf ein „Toi-Toi-Toi“-Klopfen.

Wetter ist ein Problem, nicht das Virus

„Richtig los“ gehe es normalerweise im Dezember. „Es heißt nicht umsonst: Erzgebirge – Weihnachtsland. „Jetzt in dieser blöden Zeit wollen die Leute was fürs Herz.“ Zwischendurch gab es mal einen Nussknacker mit Maske und ein Holzmännchen, das auf einem Schlitten Klopapier hinter sich herzog. „Aber irgendwann ist auch mal gut mit Galgenhumor. Die Leute wollen nicht ständig nur an Corona denken.“ Zwei Wanderer mit Masken stehen auf den Stufen vor dem Laden. „Kommen sie rein“, sagt Annett Siegel mit Blick auf Jacky. „Der hat schon gefrühstückt.“

Masken und Regenschirme sind die Herbst-Begleiter der Touristinnen, die vereinzelt über die abschüssigen Wiesen und durch die Gassen der Stadt schleichen. Über ihren Köpfen verschluckt der Nebel ein schwebendes Bahnabteil, unterhalb presst eine Lokomotive ihren Dampf in die graue Luft. Wie eine Decke hat der Nebel sich auf die Stadt gelegt, Dächer und Baumspitzen verblassen unter dem milchigen Schleier. „Evacuate the dancefloor“, schallt es einsam aus den Außenboxen des Imbiss- und Skiverleihladens „An der Schwebebahn“. Betreiber Tom sagt, dass eher das Wetter als das Virus sein Problem sei.

Imbiss-Betreiber Tom: „Unser Problem ist eher das Wetter als das Virus.“
Imbiss-Betreiber Tom: „Unser Problem ist eher das Wetter als das Virus.“ © Jürgen Lösel

„Wir sind guter Dinge, was bleibt uns auch anderes übrig?“ Von den Herbstferien erhoffe man sich mehr Gäste. „Ehrlich gesagt auch davon, dass jetzt nicht mehr so viele zum Essen nach Tschechien fahren.“ Ein Schild mit „Aperol 4,50 Euro“-Versprechen, ein Fruchtgummi-Aufsteller, Red-Bull-Dosen und Mini-Likör-Flaschen rahmen das Gesicht des 41-Jährigen. Das beliebteste Gericht in Toms Imbiss ist Currywurst mit Pommes. Die beliebteste Süßspeise bestellen Gäste auch bei Regen. „Zwei Softeis bitte“, sagt ein Mädchen. „Eis geht immer“, bekräftigt Tom sie. „Und jetzt nichts wie ab an die frische Luft.“ Das Mädchen und ihr Vater stiefeln an einem roten Mülleimer mit „Langnese“-Aufschrift vorbei. „Wenn die Leute Rücksicht nehmen, müsste das schon alles werden“, sagt Tom und lächelt halbwegs überzeugt.„Bald sind wir bestimmt kein Risikogebiet mehr.“

Davon geht auch Rene Lötzsch aus, der als Geschäftsführer der Fichtelbergschwebebahngesellschaft Skilift, Schwebebahn, Wanderwege und eine Beschneiungsanlage betreibt. „Wir treffen unsere Vorbereitungen dahingehend, dass es keine Einschränkungen gibt“, sagt er. Sein Hygienekonzept sehe vor, dass Menschen da, wo sie nicht genug Abstand halten können, Masken tragen: in den Bahnen, an der Kasse.

Die vergangene Wintersaison, sagt Lötzsch, sei durch Corona zu einer akzeptablen Zeit beendet worden. „Wir konnten 79 Skitage verzeichnen. Es war keine befriedigende Situation, hat ständig geregnet, das schreckt die Leute ab.“ Einen guten Winter habe man jetzt verdient. „Viele nehmen Corona leider nicht so ernst. Würden alle Masken tragen und sich an Hygienevorschriften halten, hätten wir das Problem jetzt nicht. Darunter müssen wir jetzt leiden.“ Im Winter, meint Lötzsch, könnte sich das Problem aber von selbst auflösen. Wenn es kalt ist, empfänden manche den Stoff vorm Gesicht vielleicht nicht mehr als lästig. Sondern sogar als ganz angenehm.