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"Die wenigsten Sterbenden reden vom Tod"

Sieglinde Lehmann begleitet ehrenamtlich in Bautzen Sterbende in ihren letzten Tagen. Dabei macht sie auch für sich persönlich wertvolle Erfahrungen.

Von Tim Ruben Weimer
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Sieglinde Lehmann ist seit 21 Jahren als ehrenamtliche Sterbebegleiterin bei der Diakonie in Bautzen tätig.
Sieglinde Lehmann ist seit 21 Jahren als ehrenamtliche Sterbebegleiterin bei der Diakonie in Bautzen tätig. © Steffen Unger

Bautzen. Sieglinde Lehmann ist eine Hebamme. Eine Hebamme Gottes - das wäre zu vermessen. Aber vielleicht eine Sterbeamme, jemand, der einen Menschen von hier ins Jenseits führt. Genau wie eine Hebamme einen Säugling vom Bauch der Mutter ins Diesseits überführt. Diesen Vergleich zieht Lehmann häufig. Bei der Diakonie in Bautzen begleitet sie ehrenamtlich Sterbende und deren Angehörige auf dem letzten Stück ihres Lebensweges. Das kann mehrere Jahre dauern oder auch nur ein paar Tage.

Ablehnung von Nahrung als Signal für letzte Lebensphase

"Mit einer etwa 90-jährigen an Krebs Erkrankten habe ich jede Woche alte Fotoalben angeschaut", erzählt die 70-Jährige, die bereits seit 21 Jahren als Sterbebegleiterin tätig ist. "Dann wurde sie zunehmend schwächer, und irgendwann hat sie bewusst entschieden, nichts mehr essen und trinken zu wollen." Die Ablehnung von Nahrung sei ein deutliches Signal, dass der Mensch in die letzte Phase seines Lebens eintritt. Nach 14 Tagen verstarb die Frau.

Mit künstlicher Ernährung hätte man den Tod hinauszögern können. Doch das sei häufig nicht der Wille der Sterbenden. Für die Angehörigen sei es eine große Entlastung, wenn sie die Entscheidung nicht selber treffen müssen. "Viele Sterbende erwähnen das Wort Tod zunächst gar nicht, drängen das Thema lange hinfort. Aber das wandelt sich manchmal über Nacht. Denn innerlich wissen sie, dass es bald soweit ist", sagt Sieglinde Lehmann.

So ähnlich sei es auch bei einem ebenfalls an Krebs erkrankten Mann gewesen, der plötzlich begann, wieder zu sprechen, als Lehmann mit ihm die gemeinsame Liebe zu einem sorbischen Musiker entdeckte. "An seinem letzten Lebenstag auf der Palliativstation haben wir noch seine Lieder gesungen", erzählt sie. Erfahrungen wie diese macht Lehmann als Sterbebegleiterin wöchentlich. "Sie sind eine Bereicherung für mein eigenes Leben", sagt sie.

Der Tod war prägend - schon seit jungen Jahren

Die Beschäftigung mit dem Tod prägt Sieglinde Lehmann schon seit jungen Jahren. "Als ich 18 war, ist meine Lieblingsoma krank geworden, und ich habe damals mein Studium aufgegeben, um sie ihr letztes halbes Jahr zu begleiten", erzählt sie. Später, im Jahr 2000, ertrank ihr Neffe mit nur 25 Jahren - ein großer Schicksalsschlag für die Familie, die mit mehreren Generationen einen großen Hof bewohnte. "Jeder Mensch trägt einen Ruf in sich, der war bis dahin bei mir noch eher unterbewusst", sagt Lehmann. "Der Tod meines Neffens hat den Samen in mir aufgesprengt."

Um andere Menschen in den letzten Wochen ihres Lebens zu begleiten, muss man sich zunächst mit seinen eigenen Ängsten vor dem Tod auseinandergesetzt haben, weiß Veronika Maria Deckwart, die die Sterbebegleitungskurse bei der Bautzener Diakonie leitet. "Ich muss wissen, wie ich selber das Sterben aushalten kann, denn es gibt auch Menschen, die sehr am Leben hängen." Die Kurse erforderten ein hohes Maß an Bereitschaft, sich selber für existenzielle Fragen zu öffnen. "Es gibt auch gelegentlich Leute, die dann nach dem Grundkurs sagen, dass sie sich noch nicht in der Lage sehen, Sterbebegleitung zu übernehmen", sagt Deckwart.

Rund 90 Personen sind bei der Diakonie Bautzen inzwischen als Ehrenamtliche beim Ambulanten Hospiz- und Palliativberatungsdienst tätig, vorwiegend Frauen. Ein Anruf dort genügt, um die kostenlosen Dienste einer Sterbebegleiterin in Anspruch zu nehmen.

"Gespräche über den Tod sind heilsam"

Sieglinde Lehmann, eine der 90 Ehrenamtlichen, kommt nicht nur ins Krankenhaus, sondern auch zu den Familien des Sterbenden nach Hause, teils tritt sie sogar mit Nachbarn oder Arbeitskollegen in Kontakt. "Sich auf den Tod vorzubereiten, ist etwas Schönes und Wertvolles", sagt sie. "Ich bin eine einsame Begleiterin am Ende einer großen Lebensreise, um zu hören, was davon noch erzählt oder geklärt werden soll." Angst vor dem Tod begegne sie dabei viel seltener als der Angst vor dem Prozess des Sterbens: "Man will beim Sterben nicht allein sein, viele möchten zu Hause sein oder haben Angst vor Schmerzen", berichtet sie.

Angehörigen rät sie, das Thema Sterben nicht einfach auszublenden und mit der Beerdigung abzuhaken. "Es sind ganz heilsame Momente, wenn man es schafft, sich darüber zu unterhalten - etwa darüber, was man sich vorstellt, was nach dem Tod kommt, wer einen abholt." Denn wer mit dem Bewusstsein des Sterbens lebe, für den würden andere Dinge im Leben wichtiger, sagt sie. "Man gestaltet sein Leben anders, bewusster."

2006 hatte Lehmann einen schweren Verkehrsunfall. "Wir wussten nicht, ob ich das überlebe, ob ich jemals wieder laufen kann oder für immer im Rollstuhl sitze. Diese Erfahrung, körperlich abhängig von anderen zu sein, war für mich wichtig", sagt sie. Dadurch könne sie vieles ihrer heutigen ehrenamtlichen Arbeit besser nachvollziehen. Und "spätestens damit sind wir alle wach geworden und haben miteinander darüber gesprochen, was hätte passieren können". Inzwischen blicke sie ihrem eigenen Tod optimistisch entgegen. "Wenn man einen Sterbenden fragt, wie es nach dem Tod weitergeht, bekommt man meistens ein Lächeln geschenkt."